spannungsfreie Begegnung zwischen christlichen und jüdischen Bevölkerungskreisen im
Saargebiet bis 193555.
Auch der Widerstand einer an Zahl zwar kleinen, vom politischen Gewicht her aber be¬
achtlichen Minderheit, die für die Erhaltung des Status quo kämpfte, indem sie sich für
eine fortgesetzte Gültigkeit des 15 Jahre alten Saarstatuts aussprach, spricht nicht gegen
die Feststellung, daß die Saarbevölkerung im Jahre 1935 fast ausschließlich eine nationale
Entscheidungsfrage beantwortet hat; denn die Position der Oppositionellen wurde nicht
von einem Widerstand gegen eine Rückkehr nach Deutschland beherrscht, sondern allein
von der Furcht vor einer Ausweitung der diktatorischen Gewalt des Nationalsozialismus
auf das Saargebiet56. Dabei kam es zu einer ungleichen Allianz zwischen einer von Links¬
parteien gebildeten Union, deren zentrale Figur der Sozialdemokrat Max Braun57 war
und einer kleineren Gruppe der Zentrumspartei, die sich um den späteren saarländischen
Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann sammelte. Diese in sich indifferente politische
Minderheit, die mit Ausnahme der Kommunisten gemäß ihrer jeweiligen Überzeugungen
rechtsstaatliche Lebensformen an der Saar erhalten wollte, mußte nach 1935 größtenteils
emigrieren, sofern sie der Gefahr der politischen Verfolgung durch die Nationalsoziali¬
sten entgehen wollte58. Eine beachtliche Zahl der Opponenten mußte die Flucht sogar
zum zweiten Mal antreten. Diese Tatsache ergab sich aus dem Umstand, daß das Saarge¬
biet vom Jahre 1933 an zur Zufluchtsstätte für politisch Verfolgte in Deutschland ge¬
worden war59. Die Kenntnis der saarländischen Emigrantenschicksale ist eine wesentliche
Voraussetzung für das Verständnis der politischen Willensbildung innerhalb der saarlän¬
dischen Bevölkerung nach 1945, sie ist geradezu unentbehrlich, wenn man die Motive po¬
litischen Verhaltens sozialdemokratischer Politiker an der Saar in der Nachkriegsphase
ergründen will; denn aus ihren Reihen rekrutierte sich mit Abstand das größte Kontingent
der von den Nationalsozialisten politisch Verfolgten60.
Richard Kirn, Emigrant und einer der profiliertesten sozialdemokratischen Politiker nach
dem Zweiten Weltkrieg in der Autonomiebewegung an der Saar, hat im Jahre 1976 die
tiefe Verdrossenheit seiner politischen Freunde über nationalstaatliche Solidaritäts¬
formen in einem Rundfunkinterview so formuliert:
Die Grenzbevölkerung oder — Bevölkerungen, die leiden doch immer unter diesem
Wechsel. Wenn ich daran denke, ich bin als Preuße geboren, an der Saar. Dann gehörte
ich zum Protektorat der französischen Republik, 15 Jahre. Dann wurde ich staatenlos,
dann wurde ich Saarländer, saarländische Staatseigenschaft, dann wurde ich wieder Bun¬
desdeutscher ..., ausgebürgert 1937, ..., mein Vermögen beschlagnahmt, weiß Gott wie
55 H.-W. Herrmann, Schicksal, S. 259 ff.
56 Dies räumt auch Schneider ein. H. Schneider, S. 30.
57 Vgl. D. M. Schneider, S. 481. Dort finden sich auch die Lebensdaten Brauns.
58 Vgl. hierzu die Untersuchung über saarländische Emigrantenschicksale von D. M. Schneider.
Herrmann hat dazu einen ergänzenden Beitrag vorgelegt, der die Besonderheiten der saarlän¬
dischen Emigration sowie Hintergründe und zahlenmäßigen Umfang beleuchtet. H. - W. H e r r-
mann, Emigration und die Statistiken bei H.-W. Herr mann, Emigration, S. 378 ff. Relativ
ausführliche Lebensbeschreibungen der bekanntesten Saaremigranten finden sich bei W.
Röder und H. Strauss (Leitung und Bearbeitung).
s9 D. M. Schneider, S. 470.
60 Vgl. hierzu die „biographischen Notizen“ bei D. M. Schneider, S. 531 ff.
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