stärkste Persönlichkeit verantwortlich, die das Saarbrücker Universitätsleben bis zum
Jahre 1956 erlebte, nämlich Joseph François Angelioz. Es war schon in vielfacher Hinsicht
eine glückliche Fügung, daß Angelioz im Jahre 1950 nach Saarbrücken kam37. Er war da¬
mals 57 Jahre alt und als französischer Germanist wissenschaftlich ebenso hervorragend
ausgewiesen wie als Verwaltungsmann. Geboren und aufgewachsen im Savoyischen, war
er nach Studien in Annecy, Lyon und Leipzig 1920 Deutschlehrer geworden. 1936 war
sein bekanntes Rilkebuch entstanden, das er 1952 neu überarbeitet vorlegte und das 1955
in deutscher Übersetzung erschien. 1943 brachte er eine zweisprachige kommentierte
Ausgabe von Rilkes Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus heraus, und im Jahre
1949 legte er eine Monographie über Goethe vor, die zeigte, daß er auch in der Literatur
der deutschen Klassik zuhause war. Zu seinen zahlreichen Übersetzungsarbeiten gehört
auch die Übertragung von Heinrich Manns Einführung in Nietzsches Werk ins Französi¬
sche im Jahre 1938. Populär war Angelioz auch als führender Mitarbeiter der Zeitschrift
„Le Mercure de France“. In ihr informierte er das französische Publikum in regelmäßigen
Beiträgen über die deutsche Literatur der Klassik und der Gegenwart38. Angelioz kam aus
dem normannischen Caen nach Saarbrücken. Dort war er seit 1936 Professor für deut¬
sche Literaturgeschichte gewesen. Nebenher hatte er noch das „Germanische Institut“ in
Paris geleitet. Angelioz gehörte zur Minderheit französischer Germanisten, die im Sinne
Robert d’Harcourts auch nach den Erfahrungen mit Hitlerdeutschland bereit waren, die
Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland ohne Ressentiments und im Geist
christlicher Nächstenliebe zu beurteilen. Dazu gehörte angesichts des damals düsteren
Deutschlandbildes in der breiten Öffentlichkeit Frankreichs und dem Hang der französi¬
schen Nachkriegsgermanistik, die Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands mit Hilfe
zweifelhafter völkerpsychologischer Herleitungen und deterministischer Denkansätze zu
deuten, viel Mut und Fingerspitzengefühl. Seine wissenschaftlichen Leistungen und si¬
cherlich auch seine auf Verständigung angelegte Einstellung gegenüber Deutschland
haben dazu geführt, daß ihm zahlreiche Ehrungen zuteil wurden, deren bedeutendste
ohne Zweifel die „Goethe-Plakette“ der Stadt Frankfurt im Jahre 1951 war39 40, Angelioz
hat sein Amt als Rektor energisch und mit Autorität sowie Konsequenz geführt, ohne
dabei den Charme zu verlieren, der seiner Person eigen war. Man kam mit ihm ausge¬
zeichnet zurecht, nur manchmal, da war er etwas kauzigr40, urteilt sein Landsmann
Woelfflin über ihn, womit er als ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrates wohl an¬
deuten wollte, daß Angelioz alles andere als ein willfähriger Beauftragter dieses Gre¬
miums war.
37 Für das Amt des Rektors hat Donzelot im übrigen zuerst den französischen Germanisten Robert
Minder zu werben versucht. Minder lehnte aber ab, weil er seine Skrupel gegenüber einer von ihm
befürchteten fremdbestimmten Kulturpolitik an der Saar nicht ablegen konnte. R. Minder,
Deutsche Kultur.
38 Biographische Angaben und die Auflistung seiner wissenschaftlichen Leistungen nach Saar¬
brücker Zeitung vom 1. 4. 1978, die anläßlich des Todes von Angelioz am 29. 3. 1978 das Leben
und Werk des ersten Rektors der Saaruniversität würdigte, wobei sie nach Angaben der Redak¬
tion auf einen Text von André Banuls zurückgriff. Dieser Beitrag geht auch auf den Lebenslauf
und die wissenschaftlichen Arbeiten von Angelioz nach 1956 ein.
39 Vgl. hierzu im einzelnen I. Spangenberg,S. 40 und die dortige Anm. 50.1960 erhielt Angelioz
die Ehrendoktorwürde der Universität des Saarlandes, und 1976 wurde ihm der Peter-Wust-Preis
zugesprochen. Nach Saarbrücker Zeitung vom 1. 4. 1978.
40 Interview P. Woelfflin vom 27. 11. 1976.
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