Zur Einführung
Die Zahl der Untersuchungen, die sich mit Bildungsgeschichte als Gegenstand histori¬
scher Fragestellungen bzw. im weiteren Sinne als Gegenstand der Sozialgeschichte ausein¬
andersetzen, hat im letzten Jahrzehnt erheblich zugenommen. Das wachsende Interesse
an solchen Themenstellungen hängt vor allem damit zusammen, daß die Erforschung der
bildungsgeschichtlichen Entwicklungen heute nicht mehr allein von der historischen Päd¬
agogik wahrgenommen wird, sondern zunehmend auch von der Geschichtswissenschaft
als Aufgabe angesehen wird. Dabei entwickelte sich eine Kooperation, die vor allem des¬
wegen als fruchtbar bezeichnet werden kann, weil Pädagogik als Ideengeschichte und Bil¬
dungswirklichkeit als Sozialgeschichte einen im Industriezeitalter bedeutsamen und
immer differenzierter werdenden Lebensbereich eigentlich nur gemeinsam darstellen
können. Die gemeinsam erforschte Bildungsgeschichte kann nunmehr besser in die kom¬
plexen Zusammenhänge geschichtlicher Abläufe gestellt werden. Diese stetige Aufgabe
der Einbindung in historische Gesamtverflechtungen gewinnt dann eine besondere Be¬
deutung, wenn das öffentliche Bildungssystem in spannungsreichen Zeiträumen außeror¬
dentlichen politischen Gestaltungsabsichten unterworfen wird. Die Geschichte des Saar¬
landes von 1945 bis 1955 stellt einen solchen Vorgang mit außergewöhnlichen politi¬
schen Veränderungen dar, und die in dieser Phase erfolgten intensiven Wechselwirkungen
zwischen Bildung und Politik waren ein wesentliches Motiv, diese Untersuchung durch¬
zuführen.
Das gesetzte Ziel, ein solches Beziehungsgeflecht konzentriert zu analysieren, zwingt frei¬
lich zur Beschränkung. In dieser Studie soll der Gestaltungswille hinsichtlich des öffentli¬
chen Bildungssystems Aufschlüsse über eine als separatistisch qualifizierte Politik geben,
die nicht nur für die Bildungsgeschichte selbst, sondern auch für die allgemeine politische
Geschichte von Interesse ist. Die Absicht, eine bildungspolitische Gesamtdarstellung
schreiben zu wollen, kann daher nicht verfolgt werden. Sie wäre nur zu vertreten, wenn
die untersuchte Bildungspolitik noch intensiver in ihren Auswirkungen auf den schuli¬
schen Alltag beleuchtet und wenn gleichzeitig das gesamte Bildungssystem noch stärker
auf bildungsökonomische bzw. bildungssoziologische Fragestellungen bezogen worden
wäre. Unvollständig bleibt auch die Auseinandersetzung mit den bildungspolitischen Wil¬
lensbildungsprozessen in den Parteien und Verbänden.
Die hier vorliegende Untersuchung der Bildungspolitik im Saarland1 setzt die Definition
des Begriffs voraus. Sie wird hier als Aufgabe und Wille von Regierung, Parlament, Kir-
1 In den Jahren von 1919 bis 1935 wurde das heutige Saarland im offiziellen Sprachgebrauch der
Behörden als „Saargebiet“ bezeichnet. Nach der Rückgliederung der Saar im Frühjahr 1935 wird
der amtliche Name „Saarland“ gängig. Er wurde nach 1945 von der saarländischen Amtssprache
weiterhin verwendet und ist heute offiziell für das jüngste Bundesland. Im übrigen Deutschland
benutzte man nach dem Zweiten Weltkrieg oft gezielt den Begriff „Saargebiet“, um, so eine oft
zu hörende Begründung, dem Verwaltungsgebiet wegen der Separationsproblematik sui generis
die Qualität als „Land“ zu verweigern. In dieser Arbeit wird für den Zeitraum bis 1945 in der
Regel der Begriff „Saargebiet“ benutzt, für den Zeitraum danach immer „Saarland“, falls nicht
Zitatzwänge entgegenstehen.
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