wesen sei, die seiner Saarheimat „in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht eine Chance“
geboten hatte, „wie sie ihr noch nie in der Geschichte gegeben war und auch nicht mehr
gegeben wird27. Sie wird aber auch nicht bei dem Urteil Schmidts stehen bleiben können,
dessen umfangreiche Darstellung über die Saarpolitik jener Jahre schon wegen des ge¬
ringen zeitlichen Abstands zum Ereignis zu sehr dem Hang zur Anklage und Apologie aus¬
gesetzt gewesen ist28.
Die saarländische Geschichte von 1945 bis 1955 darf nicht um einer nationalen Idee
willen geschrieben werden, sondern sie muß vom Faktischen ausgehen. Sie wird ihren
Ausgangspunkt in der Kriegsniederlage Deutschlands sehen müssen, als ein neues Kapitel
europäischer Geschichte zaghaft aber unwiderruflich begann. So kann man die Landtags¬
wahlen vom 5. Oktober 1947 und vom 30. November 1952 durchaus, wenn auch mit
Vorbehalten29, als mehrheitsgetragene Vota der Bevölkerung für eine mögliche Politik der
saarländischen Eigenentwicklung werten30. Die Berechtigung dieser Annahme unter¬
streicht, wenngleich man das Ergebnis auch mit Vorsicht zur Kenntnis nehmen muß,
zudem eine nicht zur Veröffentlichung bestimmte repräsentative Umfrage des Sozialpsy¬
chologischen Instituts in Saarbrücken aus dem Jahre 1947. Danach erklärten sich zu
diesem Zeitpunkt 71 % der Saarländer für eine wirtschaftliche Angliederung an Frank¬
reich und 60 % stimmten einer Verfassungskommission zu, die im Rahmen der Autono¬
mievereinbarungen die Grundlinien für eine öffentliche Ordnung festlegen sollte31. Daß
die partikularistisch eigenstaatliche Position in der saarländischen Bevölkerung durchaus
ihre Chance hatte, verdeutlicht nicht zuletzt die in repräsentativen Umfragen ermittelte
ungewöhnlich hohe Zahl Unentschlossener im Zeitraum vor der Abstimmung32 vom Ok¬
tober 1955 sowie die Stärke und Zähigkeit der CVP nach 195533. Noch im Jahre 1957
27 J.Hoffmann, Ziel, S. 427.
28 Die Arbeit von R. H. Schmidt erschien in den Jahren 1959 bis 1962. Sie war bis zum Jahre
1957 schon weitgehend abgeschlossen. Vgl. R. H. Schmidt, Bd. 2, S. IX (Vorwort).
29 So resümierte z. B. Kirchenrat Wehr in einem Vortrag im Roten Salon des Bonner Bundeshauses
am 27.1.1953, zu dem der Deutsche Evangelische Kirchentag 50 namhafte Vertreter aus Politik
und Zeitungswesen geladen hatte, daß er zwar gegenüber Hoffmann die Nichtzulassung von Par¬
teien beklagt habe, daß man aber an sich gegen die Wahl nichts sagen könne. Jeder sei frei ge¬
wesen, für die zugelassenen Parteien zu stimmen oder eine ungültige Stimme abzugeben. Nach
Aufzeichnungen über diese Veranstaltung (Datum 28. 1. 53), S. 3. Diese Bewertung der Wahl
wurde in der nachfolgenden Diskussion zum Teil scharf kritisiert. LA Saarbrücken, Bestand
Nachlaß Heinrich Schneider Nr. 103.
30 Bei der Landtagswahl von 1947 stimmten 90,2 % der Wahlbeteiligten für die zugelassenen Par¬
teien, bei der Landtagswahl 195 2, bei der die für illegal erklärte deutsche Opposition zur Abgabe
„weißer Stimmzettel“ aufgerufen hatte, waren es 75,5 %. Abziehen muß man die Werte der
Kommunisten, die als einzige Partei, die sich gegen den Wirtschaftsanschluß erklärte, zugelassen
war. Sie erhielt 1947 8,4 % und 1952 9,5 % der gültigen Stimmen.
31 Sozialpsychologisches Institut, 3. Erhebung: Der wirtschaftliche Anschluß, Ausarbeitung einer
Verfassung, Die Ernährungslage, Saarbrücken o. J. (1947), S. 6 und S. 9.
32 Repräsentative Umfragen wurden durchgeführt von: Allensbach im April und Oktober und von
Emnid im August und September 1955. Emnid nimmt zur Frage der Unentschlossenen keine Stel¬
lung. Das Institut Allensbach registriert in seiner Aprilumfrage 49 % und in seiner Oktober¬
umfrage 30 % noch nicht festgelegte Abstimmungsberechtigte. Im Rahmen seiner Hintergrund¬
analyse zur Aprilumfrage schreibt das Institut, daß die Gruppe der Unentschiedenen enorm groß
ist; die Erfahrungsberichte der Interviewer deuten darüber hinaus an, daß es sich hier um eine
echte Unschlüssigkeit, um einen wirklichen Zweifel in breiten Schichten der Bevölkerung han¬
delt. Umfragebericht Institut Allensbach, Die Stimmung im Saargebiet, April 1955. Bundesar¬
chiv Koblenz, Zsg. 132/416 I.
33 Vgl. hierzu im einzelnen das Schicksal der CVP im Rahmen der allgemeinen saarländischen Par¬
teiengeschichte bei H. W. Herrmann und G. W. Sante, Saarland, S. 54 ff. Vgl. auch R. H.
Schmidt, Bd. 3, von S. 387 an passim.
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