Hans-Walter Herrmann
Stadtrechtsgeschichtliche Aspekte einiger unter König
Ludwig XIV. von Frankreich gegründeten Festungsstädte.
Ein besonderes Problem bei der Neuanlage von Festungsstädten war ihre Besied¬
lung. Wenn die Arbeiten an den Bastionen, Wällen und Toren einen gewissen Stand
erreicht hatten, bedurfte es der Menschen, die die im Entstehen begriffene Stadt mit
Leben füllten, aus eigener Initiative eine private Bautätigkeit entfalteten und die ver¬
schiedenen ihnen in der Festungsstadt zugedachten Aufgaben übernehmen konnten.
Eine auf dem Reißbrett entworfene und auf der grünen Wiese erbaute Festungsstadt
wurde erst durch eine sich im Schutze ihrer Wälle ansiedelnde Zivilbevölkerung
„Stadt“ im wahren Sinne des Wortes, eine Garnison allein genügte dafür nicht. Erst
das Hinzutreten des zivilen Elementes unterscheidet die Festungsstadt von der Festung
als rein militärischer Anlage.
Jeder Stadtgründer mußte sich bemühen, Ansiedlungswillige für seine neue Stadt zu
finden. Das Problem der Gewinnung der Bevölkerung für eine neue Stadt ist nicht auf
Festungsstädte beschränkt, es stellt sich auch bei anderen Stadtgründungen. Es ist
auch nicht ein spezifisches Problem der frühneuzeitlichen Stadt, es stellt sich sowohl
im Mittelalter als auch noch in der Gegenwart. Aus der vornehmlichen Funktion der
neuen Stadt ergaben sich besondere Anforderungen und Erwartungen an die Fähigkei¬
ten und an die berufliche Vorbildung der ansiedlungswilligen Menschen. Zum Beispiel
konnte eine neu angelegte Residenzstadt, wie Karlsruhe1 oder Neuwied2 oder auch
Richelieu3 im heutigen Departement Indre-et-Loire, von vornherein auf die Beamten
und Bediensteten des Hofstaates und auf Hofhandwerker und Hoflieferanten, die sich
vornehmlich auf die Deckung gehobener Ansprüche einstellten, rechnen, oder eine
neue Hafenstadt, wie Rochefort4 oder Wilhelmshaven5, durfte den Zuzug von Men¬
schen erwarten, die sich mit der Seefahrt, dem Schiffsbau, der Herstellung und dem
Vertrieb von Schiffahrtsbedarfsartikeln in ihrer gesamten Bandbreite befaßten. Bei der
Bevölkerung einer Festungsstadt stellten sich die Versorgung von Menschen und
Tieren der Garnison mit den täglichen Nahrungsmitteln, mit Textilien und Lederwa¬
ren, eventuell auch die Unterbringung von Offizieren und Mannschaften und die
Versorgung von Verletzten im Kriegsfall als Aufgaben.
Wenn auch hin und wieder die obrigkeitlich verfügte Umsiedlung der Bewohner der
benachbarten Siedlungen in die neu angelegte Stadt, die sich bis zur Zwangsumsied¬
lung steigern konnte, begegnet, so ist doch zu allen Zeiten die Gewährung von Privile¬
gien, wie die befristete oder unbefristete Freiheit von Abgaben und Dienstleistungen,
die kostenlose oder preisgünstige Überlassung von Bauplätzen, der Verzicht auf Zu¬
1 Von Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durlach seit 1715 angelegt.
2 Von Graf Friedrich III. von Wied mit kaiserlicher Zustimmung 1653 begonnen.
3 Von Kardinal Richelieu mit königlicher Genehmigung im Anschluß an einen Schloßbau seit
1631 angelegt.
4 Seit 1666 auf Veranlassung Colberts erbaut.
5 In Ausführung des Jadevertrages zwischen Preußen und Oldenburg von 1853 als preußischer
Kriegshafen entstanden, 1873 Kommunalverfassung.
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