XIV. sah die Gelegenheit, um sich nun vielleicht ganz Süddeutschland zu unterwerfen;
jedenfalls wollte er hier Druck schaffen, und er hat tatsächlich sämtliche württem-
bergische Städte und Festungen eingenommen. Nur Schorndorf als die letzte und am
stärksten bastionierte Festung hielt stand, nicht zuletzt, weil der Kommandant im
Verteidigungsfall die absolute Herrschaft hatte; auch der Magistrat war ausgeschaltet.
Da Melac gedroht hatte, wenn Schorndorf nicht falle, werde die Residenzstadt Stutt¬
gart zerstört, kam der Übergabebefehl, der Accord, aus Stuttgart. Nun war der Magi¬
strat sich nicht sicher, ob er die Festung übergeben solle. Die Kreistruppen waren
inzwischen zurückgekehrt — sie lagen vor Ulm —, aber ihr Führer konnte sich nicht
entschließen, von Ulm aus über das Filstal herunter ins Remstal zu marschieren. Der
Kommandant war dagegen, daß man diese Festung übergab, und er hatte eine Ver¬
bündete, die Frau des ersten Bürgermeisters. Sie ließ die übrigen Frauen, ihre Freun¬
dinnen usw. bewaffnen, zog auf das Rathaus und hielt den Magistrat dort drei Tage
lang fest; außerdem halfen die Frauen den Wall zu verstärken und zu besetzen und
haben auch die Parlamentäre aus Stuttgart gezwungen, auf den Wall zu gehen; so
mußte Melac abziehen. Die Kreistruppen haben sich dann in Bewegung gesetzt — es
war ein glücklicher Zufall —, und so konnte Stuttgart vor der Zerstörung bewahrt
werden. Ein Jahr später war Melac bereits wieder in Frankreich, er mußte sich also
sehr schnell zurückziehen. Der Vorgang zeigt die Bedeutung dieser Festung: Wäre es
Melac gelungen, diese Schlüsselfestung, die ein enormes Waffenarsenal beherbergte
und für ein ganzes Jahr verproviantiert war, zu nehmen, dann wäre es wahrscheinlich
nicht geglückt oder nur unter großen Verlusten, diese Festung wieder in deutschen
Besitz zu bekommen; es wäre denkbar daß Württemberg und das Oberrheingebiet
vielleicht auf Jahre hinaus, wenn nicht auf Dauer französisch geblieben wären. Ich
würde sagen, es war eine europäische Tat, daß diese Festung den Franzosen in diesem
Moment standgehalten hat.
Wolfgang Leiser, Erlangen: Ich möchte anknüpfen an die Frage von Frau Ennen,
ob sich diese Investitionen gelohnt haben. M. E. kann man über Festungsstädte eigent¬
lich nur sprechen, wenn man das Militärwesen dieser Zeit mit allen seinen irrationa¬
len Momenten in den Blick faßt. Ich habe den Eindruck, daß Besitz von Festungen
auch zu den Prestigebedürfnissen der Staaten und Staatsmänner einer bestimmten
Epoche gehört. In diesem Zusammenhang ergibt sich eine weitere Frage: Warum
macht man sich eigentlich die Mühe, Festungen mit großem Aufwand von Zeit und
Menschen zu belagern? Im 19. Jahrhundert umgeht man die Festungen. Warum
mußte Melac erst vor Schorndorf liegen und ging nicht gleich nach Stuttgart und zer¬
störte es? Wenn ich über die Kriegsgeschichte richtig informiert bin, hat man das
Umgehen der Festungen erst im deutsch-französischen Krieg 1871 praktiziert. Man
legte ein Belagerungscorps vor die Festung, nicht sehr stark, und stieß dann mit der
Haupttruppe durch. Ohne Berücksichtigung dieser irrationalen Momente, die wohl
irgendwie mit der Standesehre oder der Berufsethik von Militärs Zusammenhängen,
werden wir die Dinge überhaupt nicht begreifen.
Wolfgang Petter, Freiburg: Gleich eine Bemerkung zum Vorredner, zum Krieg
1870/71: Metz beispielsweise ist sehr intensiv belagert worden, weil die Armee Ba-
zaine sich dorthin zurückgezogen hatte und die Festung als Basis für Operationen im
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