führung des großen Belagerungszustandes30 und lehnte weiterhin jegliche Verhandlung
mit den Streikenden ab31. In dieser Situation besannen sich die Bergarbeiter auf den tra¬
ditionellen Weg nach Berlin: Am 9. Mai beschloß eine Dorstfelder Versammlung, eine
Deputation zu Wilhelm II. zu schicken und wählte dazu Schröder, Siegel und Bunte.
Im Gegensatz zur DDR-Historiographie, die in diesem Schritt lediglich den Illusionis¬
mus rückständiger Teile der Arbeiterbewegung erblickt, der von „ultramontane(n)
Kreise(n)“ mobilisiert worden sei32, ist darin eher ein Beleg für die Resistenz der ständi¬
schen Tradition zu sehen — obwohl Schröder und Siegel seit Jahren aktive Sozialdemo¬
kraten waren. ,,So ragten Immediateingabe als Krönung des Beschwerdewegs und Kö¬
nigsdeputation, beide dem ständischen Wert- und Verhaltensborizont zugehörig, als
dessen formale Relikte weit in die liberale Ära hinein“, stellte Tenfelde fest. ,,Die ver¬
blüffende Kontinuität dieser Konfliktregelung bis zu der berühmten Kaiserdeputation
von 1889 beweist die tiefe Verwurzelung der alten Verhaltensorientierungen über alle
auflösenden Momente hinweg und hat den Lernprozeß zu industriegesellschaftlichen
Formen des Interessenkonflikts deutlich gehemmt“33 34. August Siegel (1856 — 1936)
schrieb zwar in seiner Autobiographie, daß eine Ablehnung der Wahl,,unmöglich“ ge¬
wesen sei, ,,obwohl wir wußten, daß die Kronhäupter und Staatsminister nur die
Dienstmägde der Kapitalisten waren“M, der Passage haftet indes der Rechtfertigungs¬
geruch von Memoiren an. Selbst Tölcke unterstützte damals den Vorschlag35 36. Außer¬
dem sollte die Fahrt lediglich der Kaiseraudienz dienen, die parlamentarischen Instan¬
zen kamen nicht ins Blickfeld. Sie seien ,,mit der festen Absicht nach Berlin gekommen
..., jede Berührung mit den Parteien zu vermeiden“^, lehnte Bunte eine Zusammen¬
kunft mit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ab. Unter Hinweis auf das ohne
ursprüngliche Intention der Delegierten37 zustande gekommene ,,Berliner Protokoll“
spricht Knut Hartmann hingegen von ,,fortgeschrittene(r) Orientierungsfindung“, da
ein ,,Weg zwischen herkömmlicher Petition und bloß demonstrativer Resolution“ gefun¬
den worden sei38. Er argumentiert hier jedoch a posteriori vom Ergebnis her, ohne die
subjektiven Beweggründe zu bewerten. Bei der für die Bergarbeiterbewegung der
nächsten Jahre grundlegenden Kaiserdeputation handelte es sich darum eher um eine
Paarung von ständischen Traditionsresten bei der Masse der Bergleute und alten lassal-
leanischen Vorstellungen vom Volkskönigtum bei den Delegierten.
30 Am gleichen Tag berichtete General von Albedyll an Waldersee: „Ich bekomme fast alle zehn
Minuten ein Telegramm, worin der Umsturz aller Dinge erklärt wird, wenn nicht sofort mili¬
tärische Hilfe komme, und es ist absolut gar nichts geschehen, was einer Eigentumsbeschädi¬
gung auch nur ähnlich sehe“, in: Heinrich Otto Meisner (Hrsg.): Aus dem Briefwechsel des
Generalfeldmarschalls Alfred Grafen von Waldersee, Bd. 1, Stuttgart — Berlin — Leipzig 1928,
S. 288.
31 Erklärung vom 11.5. 1889 in Glückauf/Essen vom 15. 5. 1889 (Nr. 39), abgedruckt bei
Eschenbach, S. 51 — 54, sowie Hue : Bergarbeiter, Bd. 2, S. 360 f.
32 Bismarcks Sturz, S. 268. Witt wer, S. 546.
33 Tenfelde: Sozialgeschichte, S. 406.
34 August Siegel: Mein Lebenskampf. Das Schicksal eines deutschen Bergarbeiters, Ms. Bo¬
chum 1931 (Exemplar im Archiv der IGBE Bochum), S. 69. Vgl. Hue : Bergarbeiter, Bd. 2,
S. 363.
35 Herzig, S. 111 f.
36 Seeber/Wi11wer, S. 430. In der Tremonia vom 27. 5. 1889 (Nr. 120), abgedruckt bei
Köllmann: Bergarbeiterstreik, Nr. 106, S. 160, findet sich die auf Singer stützende Begrün¬
dung, „nach der Art des Empfanges beim Kaiser dürfe diese (Besprechung) ihnen sehr scha¬
den“. Ähnlich Socialdemokrat vom 1. 6. 1889 (Nr. 22).
37 Seeber/Wittwer, S. 428.
38 Hartmann, S. 219.
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