Full text: Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung an der Saar (1848 - 1904) (12)

Die DDR-Historiographie hat sich bereits früh der Geschichte der Arbeiterbewegung 
zugewandt und hier eine Reihe wichtiger Arbeiten beigesteuert. Der leninistische 
Avantgarde-Anspruch und die Erhebung der Methode des Historischen Materialismus 
zum normativen Interpretationsschema potenzierten jedoch die Mängel der älteren ge¬ 
werkschaftlichen Geschichtsschreibung. Die Partei — nicht die Menschen mit ihren 
spezifischen Erfahrungen — ist demnach der Demiurg der Arbeiterbewegung; deren 
Geschichte erschöpft sich in der umfassenden Durchsetzung des Marxismus. Das Wi¬ 
derspiegelungstheorem und die Konstruktion eines abstrakten „homo oeconomicus“ 
führen zur Annahme, proletarische Lage führe notwendig zum solidarischen Handeln 
als Klasse und verstellen den Blick für Verwerfungen, Rückschläge und Niederlagen. 
Diesem Determinismus entspricht die Methode ,,quod erat demonstrandum“: Ideolo¬ 
gisches Postulat und historisch-empirischer Befund werden vielfach verwechselt, die 
Analyse des politischen Erfahrungsgehalts von Streikbewegungen häufig durch die 
Übernahme von Passagen des „Socialdemokrat“ ersetzt21. In geballter Form finden 
sich diese methodologischen Vorentscheidungen in Johann Fritschs „Eindringen und 
Ausbreitung des Revisionismus im Deutschen Bergarbeiterverband (bis 1914)“: Die 
Interessenidentität von politischer und gewerkschaftlicher Arbeiterbewegung und da¬ 
mit die politische Instrumentalisierung der Gewerkschaften wird als selbstverständlich 
vorausgesetzt, der eigentliche Gewerkschaftler ist der mit dem außergewerkschaftli¬ 
chen Ziel der Beseitigung des Kapitalismus, das Schema „revolutionäre Massen — revi¬ 
sionistische Führer“ zieht sich als roter Faden durch diese Arbeit22. 
In Frontstellung zur DDR-Historiographie konzentrierten sich die wenigen westdeut¬ 
schen Studien zur Geschichte der Arbeiterbewegung, die vor allem im Umkreis von 
Werner Conze entstanden, insbesondere auf die Frage: Integration in die bürgerliche 
Gesellschaft oder Emanzipation als selbständige Klassenbewegung?23. Wenn man auch 
der Gefahr der Überbetonung des liberal-demokratischen Ansatzes gelegentlich erlag, 
so gelang es doch, eine Fülle alternativer Entwicklungslinien in der deutschen Arbeiter¬ 
bewegung aufzuspüren. Gleichzeitig aber reduzierte sich Arbeitergeschichte in klassi¬ 
scher Betrachtungsweise vielfach auf Organisations- und Ideengeschichte auf nationa¬ 
ler Ebene24. 
kultureller Eigenleistung in der Entstehungsphase der Arbeiterklasse im Saarbergbau 
1850 — 1900“ und „Arbeiterwohnverhältnisse, Tradition, Kommunikation, Arbeitskampf. 
Die Bergarbeiter an der Saar in der großen Streikzeit 1889 — 1893“ wurden mir erst nach Ein¬ 
reichung meiner Arbeit zugänglich. Eine Auseinandersetzung mit seinen in vielem kontrover¬ 
sen Thesen kann hier nicht geleistet werden, da sie eine völlige Überarbeitung meiner Disserta¬ 
tion notwendig gemacht hätte. 
21 Vgl. Wilfried Kalk : Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von 1890 bis 1914 im 
Spiegel der Historiographie der DDR, Diss. Erlangen 1973, sowie Ulrich Engelhardts Re¬ 
zension von Alfred Försters „Gewerkschaftspolitik der deutschen Sozialdemokratie während 
des Sozialistengesetzes“, in: ASG 13 (1973), S. 684-687, und René Otts Besprechung von 
Ettelt/Krause und Wolfgang Schröders „Partei und Gewerkschaft“, in: IWK 14 (1978), S. 
252-254. 
22 Vgl. Fritsch, bes. S. 30 f., 37, 42, 44 — 46, 95. 
23 Kritisch dazu Volker Ullrich: Emanzipation durch Integration? Zur Kritik der bürgerli¬ 
chen Geschichtsschreibung über die Arbeiterbewegung bis 1914, in: Das Argument 75, 1972, 
S. 104 — 147. Georg Fül berth/Jürgen Harrer: Zur Kritik der sozialdemokratischen 
Hausgeschichtsschreibung, in: Blätter Für deutsche und internationale Politik 20 (1975), H. 5, 
S. 526-544, H. 6, S. 660-677. 
24 Vgl. Gerhard Beier: Glanz und Elend der Jubiläumsliteratur. Kritische Bestandsaufnahme 
bisheriger Historiographie der Berufs- und Industriegewerkschaften, in: GM 19 (1968), S. 
607-614. 
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