Von großer Bedeutung war die Feststellung von H. Mortensen (1923), daß
es Wüstungsvorgänge ohne den vollständigen Untergang eines Ortes
gibt11. Ein Wüstungsvorgang kann sich auf einen Rückgang der bäuerlichen
Stellen innerhalb eines Dorfes, ohne dessen völliges Verschwinden, be¬
schränken. Im Jahre 1933 entwickelte K. Scharlau sein sog. Wüstungssche¬
ma, das bis auf geringfügige Korrekturen bzw. Ergänzungen auch heute noch
Gültigkeit besitzt und weiterhin mit viel Erfolg Anwendung findet12. Im
Gegensatz zu früheren Auffassungen, die ja, wie oben gezeigt, „Wüstung"
als verschwundenes Dorf, allenfalls noch als verschwundene Einzelsiedlung,
charakterisierten, bezog K. Scharlau die Vorgänge in der Flur und die Teil¬
erscheinungen beim Wüstungsprozeß in die Untersuchung ein. Er wies
darauf hin, daß ebenso wie die Wohnplätze die gesamte Flur wüst werden
kann. Aus dieser Erkenntnis heraus, daß beide Komponenten menschlicher
Siedlung, Wohnplatz und Wirtschaftsfläche, Veränderungen erfahren kön¬
nen, unterschied K. Scharlau, „Ortswüstungen" und „Flurwüstungen". Sein
Begriff der Ortswüstung deckt sich dabei in etwa mit zuvor gebräuchlichen
Wüstungsdefinitionen. Neben die Betrachtung der verlassenen Wohnplätze
tritt nun gleichberechtigt die Beschäftigung mit der aufgegebenen und unbe-
wirtschafteten Feldflur. Hatte man sich bisher meist darauf beschränkt, das
völlige Verschwinden, den totalen Untergang der gesamten Siedlung fest¬
zuhalten, so wurde man nun auch darauf aufmerksam, daß ebensogut nur
Teile eines Dorfes wüst werden und damit einen starken Schrumpfungs¬
prozeß hervorrufen können. Dieses teilweise „Wüstwerden" kann sich auch
auf der Wirtschaftsfläche abspielen, indem beispielsweise die Außenfelder
einer Gemarkung nicht mehr genutzt werden. Der von der Wohnsiedlung
erhalten gebliebene Teil wird als Restsiedlung bezeichnet. Ebenso nennt
man den Teil der Gemarkung, der in Nutzung geblieben ist, Restflur.
Betrachtet man nun den Wohnplatz und die dazugehörige Wirtschaftsfläche
als Einheit, so kann man erst von einer totalen Wüstung sprechen, wenn
beide völlig wüst sind. Wird nur ein Teil allein wüst, so handelt es sich
nach Scharlau immer noch um eine partielle Wüstung. Nur totale Orts¬
wüstung und totale Flurwüstung ergeben eine totale Wüstung.
Normalerweise wird die partielle Wüstung der totalen vorausgehen. Doch
muß diese Phase nicht unbedingt durchlaufen werden. Orts- und Flur¬
wüstung sind meist miteinander verknüpft, das heißt: Die Entwicklung zu
der einen Form kann, muß aber nicht zwangsläufig die Bildung der anderen
hervorrufen. So kann eine Ortswüstung bei einer Wohnplatzveränderung
unter Beibehaltung der alten Feldfluren entstehen.
11 H. Mortensen, Siedlungsgeographie des Samlandes, Stuttgart 1924 (= For¬
schungen zur deutschen Landes- und Volkskunde, 22. Bd.), S. 66—68.
12 K. Scharlau, Beiträge zur geographischen Betrachtung der Wüstungen, in:
Badische Geographische Abhandlungen 10, 1933, S. 10.
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