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Das Wort „sittlich** ist uns allen bekannt und vertraut, nicht
etwa nur als Lautgebilde, sondern auch als „Wort“, d.i. als
ein Lautgebilde, das uns Gegebenes zum Ausdruck bringt. Es
steht also um das Wort „sittlich“ nicht so schlimm, daß sein Ge¬
gebenes den in die Wissenschaft vom Sittlichen Einzuführenden
völlig unbekannt wäre, aber freilich ist der Sinn des Wortes
„sittlich“ ihnen nicht ohne weiteres klar und sichergestellt wie
das Gegebene der Mathematik in den Worten „Raum“ und
„Zahl“. Darum kann die Ethik auch nicht umhin, den Sinn
des Wortes „sittlich“ eindeutig sicherzustellen. Wir werden
aber bei der wissenschaftlichen Sinnfeststellung des Wortes
„sittlich“ billigerweise darauf bedacht sein, daß wir die Füh¬
lung mit der Geschichte, in der das Wort „sittlich“ uns entgegen¬
tritt, nicht verlieren.
Nun möchte es allerdings scheinen, daß die Suche nach dem
Gegebenen „sittlich“ dadurch schon rasch ihre Erledigung fin¬
den werde, wenn wir uns des Ursprungs des Wortes „sittlich“
erinnern, also uns der vom verwissenschaftlichen Bewußtsein
vollzogenen Bildung dieses Wortes vergewissern. Da finden wir
denn, daß „sittlich“—,,der Sitte gemäß“ von „Sitte“ abgeleitet
ist, in diesem Sinne also das Wort „sittlich“ ein Beziehungs¬
wort bedeutet, so daß das in dem Wort ausgedrückte Gegebene
eine Beziehung darstellt, deren eines Glied das Gegebene „Sitte“
ausmacht. Zur Klarstellung dieser besonderen Beziehung wären
wir damit auf die neue Frage hingewiesen: „was ist Sitte?“
Der Schein nun, daß wir in der Beantwortung der Frage
„was ist sittlich?“ mit der Ableitung des Wortes „sittlich“ von
dem Stammwort „Sitte“ auf dem richtigen Wege seien, ver¬
stärkt sich noch, wenn wir beachten, daß die dem deutschen
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