Einleitung
Am 13. Januar 1935 entschied sich die saarländische Bevölkerung in einer Volks¬
abstimmung zu über 90 Prozent für die Rückkehr des seit 1920 durch den Frie¬
densvertrag von Versailles abgetrennten Saargebietes zu Deutschland. Das Ergeb¬
nis dieses 1919 durch den Friedensvertrag festgesetzten Plebiszites wurde bereits
damals und wird teilweise heute noch vornehmlich als Folge der nationalen
Haltung einer grenzdeutschen Bevölkerung angesehen1. Die Katastrophe von
1945 mit ihren Auswirkungen auf den Nationalgedanken in Deutschland stellt
jedoch diese scheinbar in sich geschlossene Interpretation der Saarabstimmung
von 1935 in Frage. Der Nationalsozialismus sprach, um die 1933 aufkommenden
Bedenken gegen die Rückgliederung an ein nationalsozialistisches Deutschland
zu zerstreuen, ganz bewußt und mit Erfolg die nationale Haltung der Abstim¬
menden an. So liegen die Gründe für die oben geschilderte Auffassung von der
Abstimmung 1935 tatsächlich in weitem Maße in einem stark entwickelten Natio¬
nalgefühl, ja Nationalismus, dem der Nationalsozialismus lediglich als Fort¬
setzung der eigenen Ansichten erschien. Ferner darf die Wirkung einer von 1933
an, besonders aber 1934 betriebenen nationalsozialistischen Saarpropaganda nicht
unterschätzt werden. Diese beiden Faktoren verhinderten in erster Linie die Ein¬
sicht, daß sich der Nationalsozialismus vom herkömmlichen deutschen Nationa¬
lismus unterschied. Dies einzusehen gelang nur einer kleinen Minderheit von
Saarländern aus Kreisen der Sozialdemokratie, der Kommunistischen Partei und
des Katholizismus. Noch viel weniger hatte die Bevölkerung im Reich, die in
geringerem Maße Zugang zu unverfälschten Nachrichten hatte als die Saarbe¬
völkerung bis 1935, Einsicht in diese Problematik.
Durch das ungeklärte Verhältnis von Nationalismus und Nationalsozialismus,
das ihr anhaftete, stand die Betrachtung der Saarfrage in jener Zeit stellvertretend
für die Geisteshaltung des gesamten deutschen Nationalismus nach 1933. Indem
aber das traditionelle Nationalgefühl die nur vordergründigen Forderungen Hit¬
lers nach Revision des Versailler Vertrages unterstützte1 2, wurden innenpolitische
Wandlungen überspielt und aus dem Bewußtsein gedrängt. Dieser Sachverhalt
1 Diese Auffassung beleuchtet kritisch Kunkel, Ernst, Die Sozialdemokratische Partei
des Saargebiets im Abstimmungskampf 1933/1935, Saarbrücken 1968, S. 9. Sie zeigt
sich z. B. in der Darstellung von Bruch, Ludwig, Weg und Schicksal einer deut¬
schen Zeitung, in: Zweihundert Jahre Saarbrücker Zeitung, Saarbrücken 1961,
S. 178ff.
2 B r a c h e r , Karl Dietrich, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Na¬
tionalsozialismus, Köln—Berlin2 1969, S. 313ff., ferner: J a c o b s e n, Hans Adolf, Na¬
tionalsozialistische Außenpolitik 1933—1938, Frankfurt—Berlin 1968, S. 328ff.
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