5. Erfolg und Begrenzung des Einflusses der Parteien in der Ausbalan¬
cierung des internationalen Regierungssystems
Verlauf und Ergebnisse der Ratstagung vom Juli 1923 stellten aufsehen¬
erregende Ereignisse dar und bedeuteten den Übergang zu einer endgültigen
Kräfteverteilung in dem internationalen Regierungssystem der Saar. Die
Parteien sahen in den Vorgängen des Jahres 1923 nur den Erfolg ihrer
Politik210. Die Ratsdiskussion hatte zwar eine Reihe jener Beschwerden
aufgegriffen, die Delegationen und Petitionen der Saarparteien vorgebracht
hatten, aber sie zeigte überdies klar, daß der Einfluß der Parteien sich im
Zusammenspiel mit anderen Faktoren auswirkte wie begrenzte. Lord Cecils
Vorgehen war sowohl von den Gesichtspunkten des englischen Verhältnisses
zur französischen Politik des Jahres 1923 als auch von denen der saar¬
ländischen Parteien, Waughs, Colbans und des Sekretariats bestimmt. Die
Rolle des Schweden Branting auf der Ratstagung verdeutlicht vielleicht am
besten, wieweit die Ziele der Saarländer erreicht worden waren. Branting
muß innerhalb des Rates als der eigentliche Repräsentant der saarländischen
Wünsche angesehen werden. Er hatte nicht nur im April 1923 den Anstoß
zu einer kritischen Auseinandersetzung des Rates mit der Saarentwicklung
gegeben und sich in seinen Ausführungen fast wörtlich der Argumente der
saarländischen Denkschrift vom 24. März 1923 bedient211, sondern griff
auf der Julitagung des Rates die politisch weitreichende Bitte der saar¬
ländischen Vertreter um Anhörung vor dem Rat auf212. Lord Robert Cecil
schlug daraufhin vor, auf die Hinzuziehung der Saardelegation zu ver¬
zichten, bis man die Befragung der Mitglieder der Regierungskommission
abgeschlossen habe. Nach der Verhandlung drängte Branting nicht weiter
auf die Anhörung der Saarländer. Da die Überprüfung des Saarregimes so
ernsthaft und gründlich durchgeführt worden sei, glaube er „devoir céder
au désir de certains de mes collègues“213. Damit bezog er sich nicht nur auf
die Wünsche Frankreichs, sondern auch des Sekretariats. Der Versuch der
saarländischen Parteien, Zugang zu den Ratssitzungen und auf diese Weise
direkten Einfluß in der höchsten Kontroll- und Führungsinstanz des inter¬
nationalen Regierungssystems zu erhalten, war gescheitert. Es war das
einzige Mal, daß eine reale Chance zur Erreichung dieses Zieles bestand,
da die Kritik in der internationalen Öffentlichkeit auf ihrem Höhepunkt
stand. Eine Zulassung der Delegation in dieser einmaligen Situation hätte
wohl dazu geführt, daß sie zur ständigen Einrichtung geworden wäre.
Regierungskommission und Vertretung des saarländischen Landesrats wären
dann beinahe als gleichberechtigte Partner vor dem Schiedsgericht des Rates
erschienen. Dieser Schritt hätte eine erhebliche Schwächung der Stellung der
Regierungskommission bedeutet und eine unaufhaltsame Dynamik zur
210 So bes. Röchling, Wir halten die Saar, S. 97,
211 Vgl. oben S. 77.
212 S.D.N. J.O. IV,8 (1923), S. 871; Am 13. 3. 1923 hatten die politischen Parteien des
Landesrates eine Denkschrift „betreffend offizielle Anhörung des Landesrates seitens
des Völkerbundsrates“ eingereicht (C. 231. M. 131. 1923. I.).
213 Ebenda, S. 931.
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