Leben im Industriegebiet der Saar hinfort entscheidend von der Arbeiter¬
schaft mitbestimmt würde; diese strebte mit Macht nach Einfluß und Gel¬
tung bei der Gestaltung ihrer politischen und sozialen Verhältnisse. Dieser
Demokratisierungsprozeß hatte an der Saar vor dem Versailler Vertrags¬
abschluß begonnen und prägte das politische Leben unter den veränderten
Verhältnissen des Völkerbundregimes in tiefgreifender Weise.
Hatten die Deutsche Revolution und der Übergang zu Republik und Parla¬
mentarismus an der Saar eine Bedeutung, die vor allem in der Überwindung
der lokalen und eng begrenzten politischen und sozialpolitischen Konstella¬
tion des 19. Jahrhunderts zu sehen ist, so wurde das Gebiet durch den Ver¬
sailler Vertrag Objekt der großen Politik und gleichzeitig in seinem inneren
politischen Leben von den internationalen Problemen der europäischen
Nachkriegsentwicklung abhängig und mit ihnen konfrontiert.
Der Versailler Vertrag ist in seinen Regelungen für die Saar32 ausgesproche¬
nes Zeugnis für den Kompromißcharakter des Vertragswerkes zwischen
französischem Sicherheitsbedürfnis und den westlichen Ideen, wie sie von
Präsident Wilson vertreten wurden. Im Ringen um das Saarstatut waren die
Meinungen besonders hart auf einandergeprallt33. Als Wilson, zermürbt
durch die französischen und englischen Reparationsansprüche und Italiens
Wunsch nach Fiume, am 7. April das Schiff zur Rückkehr nach den USA
anforderte, fiel dieses Ereignis auch mit dem Höhepunkt der Auseinander¬
setzungen um die Saarfrage zusammen34. Frankreich mußte im Zuge der
Verhandlungen seine ursprünglichen Forderungen reduzieren, zeigte sich
aber besonders aktiv in der Ausarbeitung von Vorschlägen, die ihm in modi¬
fizierter Form wesentliche Ziele seiner Saarpolitik sichern sollten. Von ihrem
eigentlichen Wunsch der Annexion des Saargebietes unter Berufung auf
den Ersten Pariser Frieden waren die französischen Politiker im Konferenz¬
verlauf auf die Forderung eines Völkerbundmandates für Frankreich im
Saargebiet mit dem Recht der militärischen Besetzung und der Aufsicht über
die Lokalverwaltung und das Unterrichtswesen und der Möglichkeit einer
schrittweisen Option zum Anschluß an Frankreich zurückgewichen, um
schließlich im endgültigen Vertragswerk folgende Vorrechte zu erhalten35:
Wirtschaftliche Vorrechte: „...das volle und unbeschränkte, völlig
schulden- und lastenfreie Eigentum an den Kohlengruben im Saarbecken,
32 Darstellungen über die Saarverhandlungen in Versailles: E. W. Fischer, Die Ver¬
handlungen über die Saarfrage auf der Pariser Friedenskonferenz, Berlin 1924; C.
Groten, Die Entstehungsgeschichte des Saarstatuts, Saarlouis 1934; S. Wam-
baugh, The Saar Plebiscite, Cambridge — Massachusetts 1940, S. 37—39; H.
Hirsch, Die Saar in Versailles (Rheinisches Archiv Nr. 42), Bonn 1952.
33 Vgl. dazu bes. Tardieu, a. a. O., S. 290ff. und Ch. Seymour, The Intimate
Papers of Colonel House, Bd. IV, London 1928, S. 411 ff. Die gesamte Saarliteratur
berichtet über diese Spannungen.
34 Tardieu, a. a. O., S. 300; vgl. dazu auch Seymour, a. a. O., S. 419ff.; M. v. d.
Kall, Das Saargebiet in der Politik der Gegenwart in: Kloevekorn, a. a. O.,
S. 483; Wambaugh, a. a. O., S. 53; Lambert, a. a. O., S. 53f.; Hirsch,
a. a. O., S. 39 ff.
35 Die französischen Memoranden sind veröffentlicht bei Tardieu, a. a. O., S. 279ff.,
S. 294ff. u. S. 301 ff.; deutsche Übersetzung in Dt. Weißbuch, S. 1 ff., S. 9ff., S. 12ff.
30