stärker als an die Großstadt Saarbrücken, die nur in den alten Städten
St. Johann und Saarbrücken auf die Tradition der Grafen von Saarbrücken
zurückreichte, im übrigen aber ihr Gepräge der Industrialisierung des
19. Jahrhunderts und der preußischen Verwaltung verdankte. So waren
enge Beziehungen zu den um das Saarland liegenden größeren Städten aus
alter territorialer und kirchlicher Tradition ebenso gegeben, wie im 19. Jahr¬
hundert Verbindungen zu den preußischen und bayrischen Universitäts¬
städten und den rheinischen und pfälzischen Verwaltungszentren erwuchsen.
In diesen Verhältnissen spiegelt sich nicht nur die Tatsache, daß dem Saar¬
gebiet, als es in Versailles geschaffen wurde, die eine Einheit konstituieren¬
den historisdien und kulturellen Elemente fehlten, sondern auch, daß das
Saargebiet trotz seiner Industrialisierung im 19. Jahrhundert eine Lage im
Schatten der großen politischen und kulturellen Entwicklungen behalten
hatte. Dafür zeugt auch, daß vorpreußische Traditionen im 19. Jahrhundert
in diesem Raum nirgends ein politisch wirksames Kultur- und Sonder¬
bewußtsein entstehen ließen, das gegenüber der preußischen Herrschaft auf¬
gelebt wäre. Am augenfälligsten ist in diesem Zusammenhang, daß die Stadt
Saarlouis als Gründung Ludwigs XIV. mit ihrer immerhin beachtlichen
französischen Tradition und einem gewissen Bevölkerungsprozentsatz fran¬
zösischen Ursprungs im 19. Jahrhundert der preußischen Verwaltung keine
Schwierigkeiten bereitete und eine rein deutschsprachige Stadt wurde7. Diese
Lage des Saarlandes im Kulturschatten bildete die Voraussetzung dazu, daß
die führende Beamtenschaft der preußischen Staatsgruben8, der preußischen
Verwaltung und vielfach auch die Akademikerschaft bis zum Ersten Welt¬
krieg kaum aus dem Saarland, sondern aus den übrigen Teilen Preußens
stammten. Die politische und kulturelle Entwicklung an der Saar schritt auch
im 19. Jahrhundert langsam voran, und das Gebiet verdiente nur wegen
seiner Industrie besondere Beachtung.
Trotzdem entstanden im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam soziale und
politische Probleme, die als spezifisch saarländisch anzusehen sind und die
wesentliche historische Voraussetzungen darstellten, als das Territorium aus
den umliegenden Gebieten herausgelöst und einer Sonderverwaltung unter¬
stellt wurde.
Frankreich erstrebte auch im 19. Jahrhundert den Erwerb einiger Teile der
Saar und rief damit politische Reaktionen der Saarbevölkerung hervor9. Im
7 Literatur zur Frage Saarlouis: E. Babeion, Les Français de Sarrelouis en Prusse
Rhénane, in: Revue des Deux Mondes, 6. Jg., Nr. 41, 1917, S. 278—308. Ders.,
Sarrelouis et Sarrebruck, Paris 1918; C. R. Richter und N. Fox, Saarlouis und
Frankreich, Saarbrücken o.J.; Babeion arbeitete als Vertreter der historischen An¬
sprüche Frankreichs auf die Saar fälschlicherweise eine Lebendigkeit der französischen
Tradition in Saarlouis heraus, wie sie im 19. Jahrhundert nicht mehr bestand. Vgl.
dazu auch B e 11 o t, a. a. O., S. 16 und S. 83 f.
8 Bereits unter dem Fürsten Wilhelm Fïeinrich von Saarbrücken (1741—1768) waren
die Kohlengruben Staatseigentum geworden und gingen deshalb nach 1815 in preu¬
ßischen und bayrischen Staatsbesitz über.
9 Eine historische Darstellung der Ereignisse von 1814/15 bzw. der französischen Saar¬
politik des 19. Jahrhunderts enthalten folgende Werke: Babeion, Sarrebruck et
la Diplomatie Parisienne de 1815, in: Revue des Deux Mondes, 6ième Periode, No. 45,
Mai/Juni 1918, S. 841—863. Ders., Le Rhin dans l’Histoire, Paris 1917; L. G. Co-
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