daß die französische Regierung inzwischen eingesehen habe, daß die These
von den 150000 Saarfranzosen, die in den Versailler Saarverhandlungen
von Clemenceau vertreten worden war, unhaltbar sei. Die Schwierigkeiten,
die Frankreich oder die Staaten der Kleinen Entente gegen eine Anwendung
des Artikels 19 in der Bundesversammlung machen könnten, seien durch den
Hinweis aus dem Wege zu räumen, daß dadurch kein Präzedenzfall für
andere Minoritäten geschaffen werde, da das Selbstbestimmungsrecht der
Saarländer und die Volksabstimmung im Vertrag garantiert seien. Nur um
eine Vorverlegung des Plebiszites solle es sich handeln. Die Bundesversamm¬
lung könne also Deutschland und Frankreich den Wunsch vortragen, eine
Revision der Saarbestimmungen vor Ablauf der fünfzehn Jahre einzuleiten.
Görgen hoffte auf dieses „Engagement der internationalen Politik für die
Regelung der Saarfrage“. Deutschlands Aufgabe in Genf bestehe in der
Arbeit für die Anwendung des Artikels 19 auf die Saarfrage. Dieser Ge¬
danke war bereits früher in den Landesratsdiskussionen aufgetaucht21 und
verschmolz mit den saarländischen Vorstellungen zu der Auffassung, daß
der Völkerbund und Deutschland als Mitglied eine Rechtsgrundlage zur
Durchsetzung einer frühzeitigen Saarrückgliederung hätten.
Die stärkste Annäherung an die Politik Stresemanns war bei der Deutsch-
Saarländischen Volkspartei gegeben. Sie bewahrte die Geduld und konzen¬
trierte sich auf die Wirtschaftsprobleme und ihre Lösung im Falle einer bal¬
digen Rückgliederung.
Während der drei Jahre, die zwischen Thoiry und dem Beginn der Saarver¬
handlungen im November 1929 lagen, wurde eine vorzeitige Rückgliede¬
rung nicht nur immer wieder von den saarländischen Parteien im Zusam¬
menhang mit ihren parteipolitischen Zielen und der deutschen Außenpolitik
gefordert und erörtert22, sondern die Vorstellungen über die endgültigen
Regelungen zwischen Deutschland und Frankreich bei einer Rückgliederung
wurden immer konkreter. Ausgangspunkt blieb die nationale Position der
Revision des in Versailles geschaffenen Sonderstatus’ für die Saar. Das be¬
deutete Rückgliederung in das Deutsche Reich und seine Länder, Aufhebung
der französischen Zollhoheit und Wiedereingliederung in den deutschen
Wirtschaftsverband und Rückkauf der saarländischen Kohlengruben durch
Deutschland. Es waren jene Maßnahmen, die das Saarstatut für 1935 bei
einem positiven Ausgang des Plebiszits für Deutschland vorsah. Dieselben
Vorstellungen waren auch bei Stresemann vorhanden und waren Basis aller
deutschen Überlegungen.
Zu dieser Grundposition traten jene Überlegungen, die aus den sozial- und
wirtschaftspolitischen Erfahrungen erwuchsen, die man in der Zeit des
Sonderregimes an der Saar gewonnen hatte. Man hoffte auf die Erfüllung
21 Landesrat d. Saargeb., Sten. Ber. v. 28. 4. 1923, S. 3f.; damals verlangte man, daß die
Regierungskommission sich für die Anwendung des § 19 einsetze.
22 Vgl. neben den bereits genannten Äußerungen über Locarno und den Eintritt Deutsch¬
lands in den Völkerbund die programmatischen Erklärungen der Parteien am 3. 3. 1928
im Landesrat (Sten. Ber. v. 3. 3. 1928); außerdem S.Z. Nr. 36 v. 6. 2. 1928 (Saar-
Forderungen der Sozialisten) u. S.Z. Nr. 77 v. 19. 3. 1929 (Erklärung der Zentrums¬
partei zur Rückgliederung); vgl. auch Wambaugh, a. a. O., S. 107.
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