Full text: Parteien und Politik im Saargebiet unter dem Völkerbundsregime 1920 - 1935

Die Zentrumspartei in ihrer starken Verwurzelung in breiten Schichten der 
saarländischen Bevölkerung war auch am engsten auf die saarländischen 
Probleme konzentriert; ihr schritt die Politik der internationalen Verständi¬ 
gung unter den saarländischen Aspekten viel zu langsam voran. Sie drängte 
zur Lösung der Saarfrage, die Schwierigkeiten, auf die Stresemann in seiner 
Politik stieß, und sein wohlüberlegtes Vorgehen wurden nur schweren Her¬ 
zens akzeptiert19. In dieser Partei tauchte deshalb auch der Gedanke auf, ob 
nicht über die alten Genfer Wege etwas zu erreichen sei. Man propagierte 
die Vorstellung, der Völkerbund solle die Initiative ergreifen und einen 
Druck zur Bereinigung der Saarfrage ausüben. Diese Auffassung vertrat 
besonders der Genfer Korrespondent der „Saarbrücker Landeszeitung“, Jo¬ 
sef M. Görgen20. Er zog als Ausgangspunkt einer solchen Lösung den Arti¬ 
kel 19 der Völkerbundssatzung heran, der lautete: 
„Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer 
Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen 
Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden 
könnte.“ 
Indem er die Entstehungsgeschichte dieses Artikels zurückverfolgte, erklärte 
er ihn als Voraussetzung zur Lösung der Saarfrage. Wilson habe in seinem 
ersten Entwurf von dem „offenkundigen Interesse der betreffenden Völ¬ 
ker“, die assoziierten Mächte von der Anpassung an die „neu entstehenden 
Verhältnisse“ und das Juristenkomitee, das anläßlich des bolivianisch-perua¬ 
nischen Streitfalles sich mit dem Artikel befaßt habe, von „radikalen Ver¬ 
änderungen“ „in moralischer und materieller Hinsicht“ als Voraussetzung 
zur Anwendung des Artikels 19 gesprochen. Die radikalen Veränderungen 
als Voraussetzung der Anwendung von Artikel 19 sah Görgen 1. in der 
Wiederherstellung der nordfranzösischen Gruben und dem Umfang ihrer 
Kohlenförderung, der über den in den Vorkriegsjahren hinausgehe, 2. in der 
unhaltbaren Lage, die für die Saarwirtschaft durch ihre Einbeziehung in das 
französische Zollsystem entstanden sei und die Frankreich in den Verein¬ 
barungen vom 5. August 1926 mit dem Deutschen Reich über den Waren¬ 
austausch zwischen Deutschland und dem Saarbeckengebiet selbst einge¬ 
standen habe, und 3. in der moralischen Unhaltbarkeit des in Versailles 
geschaffenen Status für die Saar, der durch den ständigen Protest der Saar¬ 
bevölkerung gegen die „de facto Annexion“ zum Ausdruck komme. Diese 
bestehe in der Trennung der Bevölkerung von ihren Bodenschätzen, in der 
Auslieferung nicht nur der Kohlen, sondern auch der Bergarbeiter an den 
französischen Staat. Die moralische Unhaltbarkeit sei auch dadurch gegeben, 
19 Das zeigte sich besonders bei der Frage des internationalen Bahnschutzes, als die 
Zentrumspartei mit dem Nachgeben Stresemanns nicht einverstanden war. Dazu S.L.Z. 
Nr. 75 v. 17. 3. und Nr. 76 v. 18. 3. 1927; außerdem Landesrat d. Saargeb., Sten. Ber. 
v. 31. 3. 1927 und S.L.Z. Nr. 95 v. 6. 4. 1927 „Die Genfer Saardelegation bei Strese¬ 
mann“. 
20 S.L.Z. Nr. 276 v. 11. 10. und Nr. 278 v. 13. 10. 1927 „Ein Völkerbundsproblem“; 
außerdem J. M. Gör gen, Die Volksabstimmung im Saargebiet, München 1927; die 
folgenden Ausführungen stützen sich auf Kap. 7 dieser Studie: „Artikel 19 des Völker¬ 
bund-Paktes und Saarabstimmung“, S. 100—117; dort auch die folgenden Zitate. Die¬ 
selben Auffassungen über Artikel 19 vertritt auch Weber, a. a. O., S. 171 ff. 
215
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.