Die Zentrumspartei in ihrer starken Verwurzelung in breiten Schichten der
saarländischen Bevölkerung war auch am engsten auf die saarländischen
Probleme konzentriert; ihr schritt die Politik der internationalen Verständi¬
gung unter den saarländischen Aspekten viel zu langsam voran. Sie drängte
zur Lösung der Saarfrage, die Schwierigkeiten, auf die Stresemann in seiner
Politik stieß, und sein wohlüberlegtes Vorgehen wurden nur schweren Her¬
zens akzeptiert19. In dieser Partei tauchte deshalb auch der Gedanke auf, ob
nicht über die alten Genfer Wege etwas zu erreichen sei. Man propagierte
die Vorstellung, der Völkerbund solle die Initiative ergreifen und einen
Druck zur Bereinigung der Saarfrage ausüben. Diese Auffassung vertrat
besonders der Genfer Korrespondent der „Saarbrücker Landeszeitung“, Jo¬
sef M. Görgen20. Er zog als Ausgangspunkt einer solchen Lösung den Arti¬
kel 19 der Völkerbundssatzung heran, der lautete:
„Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer
Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen
Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden
könnte.“
Indem er die Entstehungsgeschichte dieses Artikels zurückverfolgte, erklärte
er ihn als Voraussetzung zur Lösung der Saarfrage. Wilson habe in seinem
ersten Entwurf von dem „offenkundigen Interesse der betreffenden Völ¬
ker“, die assoziierten Mächte von der Anpassung an die „neu entstehenden
Verhältnisse“ und das Juristenkomitee, das anläßlich des bolivianisch-perua¬
nischen Streitfalles sich mit dem Artikel befaßt habe, von „radikalen Ver¬
änderungen“ „in moralischer und materieller Hinsicht“ als Voraussetzung
zur Anwendung des Artikels 19 gesprochen. Die radikalen Veränderungen
als Voraussetzung der Anwendung von Artikel 19 sah Görgen 1. in der
Wiederherstellung der nordfranzösischen Gruben und dem Umfang ihrer
Kohlenförderung, der über den in den Vorkriegsjahren hinausgehe, 2. in der
unhaltbaren Lage, die für die Saarwirtschaft durch ihre Einbeziehung in das
französische Zollsystem entstanden sei und die Frankreich in den Verein¬
barungen vom 5. August 1926 mit dem Deutschen Reich über den Waren¬
austausch zwischen Deutschland und dem Saarbeckengebiet selbst einge¬
standen habe, und 3. in der moralischen Unhaltbarkeit des in Versailles
geschaffenen Status für die Saar, der durch den ständigen Protest der Saar¬
bevölkerung gegen die „de facto Annexion“ zum Ausdruck komme. Diese
bestehe in der Trennung der Bevölkerung von ihren Bodenschätzen, in der
Auslieferung nicht nur der Kohlen, sondern auch der Bergarbeiter an den
französischen Staat. Die moralische Unhaltbarkeit sei auch dadurch gegeben,
19 Das zeigte sich besonders bei der Frage des internationalen Bahnschutzes, als die
Zentrumspartei mit dem Nachgeben Stresemanns nicht einverstanden war. Dazu S.L.Z.
Nr. 75 v. 17. 3. und Nr. 76 v. 18. 3. 1927; außerdem Landesrat d. Saargeb., Sten. Ber.
v. 31. 3. 1927 und S.L.Z. Nr. 95 v. 6. 4. 1927 „Die Genfer Saardelegation bei Strese¬
mann“.
20 S.L.Z. Nr. 276 v. 11. 10. und Nr. 278 v. 13. 10. 1927 „Ein Völkerbundsproblem“;
außerdem J. M. Gör gen, Die Volksabstimmung im Saargebiet, München 1927; die
folgenden Ausführungen stützen sich auf Kap. 7 dieser Studie: „Artikel 19 des Völker¬
bund-Paktes und Saarabstimmung“, S. 100—117; dort auch die folgenden Zitate. Die¬
selben Auffassungen über Artikel 19 vertritt auch Weber, a. a. O., S. 171 ff.
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