Erstes Kapitel
Die Rolle der saarländischen Parteien in den
deutsch-französischen Saarverhandlungen des Jahres 1929/30
1. Die Ausarbeitung eines Rückgliederungsprogramms durch die
saarländischen Parteien
Im Zuge der europäischen Verständigungs- und Friedenspolitik Briands und
Stresemanns gelangte auch die Saarfrage in eine neue Entwicklungsphase,
die in den deutsch-französischen Saarverhandlungen des Jahres 1929/30
gipfelte. Wie die saarländischen Parteien in den Jahren nach 1920 in der
Berufung auf das Ideengut des Völkerbundes die entscheidende Möglichkeit
zur Besserung der Saarverhältnisse erblickt hatten, so waren sie nun auch die
ersten, die in den sich wandelnden europäischen Verhältnissen ihre Forde¬
rungen anmeldeten und politisch in die veränderte Konstellation einzu¬
ordnen suchten. Dadurch gewannen die Parteien erneut außenpolitische Be¬
deutung. In ihrer Stellungnahme zur Locarno- und Völkerbundspolitik
Stresemanns begannen sie — mit Ausnahme der Kommunisten — sofort ein
konkretes Programm für die endgültige Lösung der Saarfrage zu entwickeln.
Lange bevor Stresemann 1929 Briand die Zusage zu Saarverhandlungen
abrang und die damit zusammenhängenden Fragen von Deutschland und
Frankreich im einzelnen geprüft wurden, gab es klare Vorstellungen und
Pläne der saarländischen Parteien, die von weittragendem Einfluß auf die
deutsche Politik und ihre Verhandlungsposition wurden.
Das Programm der saarländischen Parteien erwuchs selbstverständlich und
rasch aus dem gemeinsamen nationalen Kampf und fußte auf dem Selbst¬
bestimmungsrecht der Saarländer, die, wie man argumentierte, bereits in den
Landesratswahlen der Jahre 1922 und 1924 und in den Jahrtausendfeiern
des Jahres 1925 ihre Abstimmung zugunsten Deutschlands vollzogen hätten.
Die Neuorientierung mit dem Ziel einer vorzeitigen Rückgliederung zeigte
sich schon in der großen Locarnodebatte im saarländischen Landesrat am
17. November 1925. Locarno wurde grundsätzlich bejaht, aber die gesamte
Situation wurde primär unter dem Aspekt der Saarfrage gewürdigt. Der
Fraktionsführer der Zentrumspartei Levacher führte aus:
„Wir von der Saar haben alles Interesse, daß der Vertrag von Locarno ange¬
nommen wird, denn es gibt — abgesehen vom Rheinland — kein Land, das der¬
artig unter Zersplitterung und Haß der Länder gelitten hat wie das Saargebiet. Es
ist Zeit, und höchste Zeit, daß die Luft von der Atmosphäre dieses Hasses gereinigt
wird. Wir erhoffen weiter das Recht auf nationale Freiheit. Wir begrüßen in die¬
sem Sinne den Vertrag von Locarno . . . Nachdem der Tag gekommen ist, an dem
sich Deutschland entschlossen hat, in den Völkerbund einzutreten, begrüßen wir
ihn um so mehr, denn das eine ist klar, es geht durch das Saargebiet eine Sehnsucht
nach der deutschen Heimat, die jeden Tag stärker wird, und wir als Vertreter der
Bevölkerung haben dazu beizutragen, daß die Sehnsucht gestillt wird. Wir sehen
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