ZEHNTES KAPITEL
DIE ZEITBESTIMMUNG IM URTEIL
UND DIE ZUSAMMENFASSENDE BESTIMMUNG DES URTEILS
1. Die Zeitbestimmung im Urteil. Es ist dem Urteil durchaus nicht wesent¬
lich irgendeine Zeitbestimmung in den Sachverhalt zu setzen. Die Zeit-
wörter, die im sprachlichen Ausdruck des Urteils entweder allein den Kopula¬
begriff oder zugleich den Kopulabegriff und den Prädikatsbegriff zum Aus¬
druck bringen, haben zwar an sich immer eine Zeitbedeutung, indem sie
entweder Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft mitsetzen. Aber diese
Mitsetzung einer Zeit ist eben in manchen Urteilen aufgehoben. Für solche
Fälle wird dann die Gegenwartsform des Zeitworts gebraucht. Daß nun in
wirklichen Urteilen die Zeitsetzung ausgeschaltet sein kann, leuchtet ohne
weiteres bei solchen Urteilen ein, die irreale Gegenstände betreffen, die also
zeitlose Sachverhalte setzen. So enthalten z. B. die mathematischen Sätze die
Zeitwörter in Gegenwartsform, aber sie setzen als Urteile keinerlei Zeit¬
bestimmung der Sachverhalte. Der Satz, daß 2X2 = 4 ist, oder daß die
Winkelsumme im ebenen Dreieck gleich 2 R ist, meint nicht, daß dies jetzt
so sei, obgleich das »ist« in beiden Sätzen die Gegenwartsform des Hilfs¬
zeitworts »sein« ist. Man hat in solchen Fällen den Ausweg eingeschlagen,
die gesetzte Gegenwart eine zeitlose Gegenwart zu nennen. Es darf dies aber
nicht so aufgefaßt werden, als ob hier in diesen Urteilen trotz allem eine
Zeitbestimmung in den Sachverhalt gesetzt würde, denn dies wäre falsch.
Wie die mathematischen, so sind auch die logischen Urteile ohne jede Zeit¬
bestimmung, da auch sie sich auf irreale Gegenstände beziehen und völlig
zeitlose Sachverhalte setzen.
Es wäre jedoch ein Irrtum zu meinen, daß nur solche Urteile, die sich auf
Irreales beziehen, ohne Zeitbestimmung seien. Vielmehr schalten auch die
systematischen Wissenschaften, die sich auf reale Gegenstände irgendwelcher
Art richten, in ihren Urteilen die durch die Gegenwartsform der gebrauchten
Zeitwörter nahegelegte Zeitbestimmung aus. Das Urteil »Schwefel hat das
spezifische Gewicht 2,06« meint ja nicht, daß Schwefel in der Gegenwart
dieses spezifische Gewicht habe, sondern erhebt, obgleich es die reale Stoffart
Schwefel meint, doch den Sachverhalt über die Zeitunterschiede der Gegen¬
wart, Vergangenheit und Zukunft hinaus und setzt, wie man gesagt hat,
eine durch alle Zeiten hindurchgehende Gegenwart. Alle nicht historischen
Wissenschaften vom Wirklichen, nicht nur die verschiedenen systematischen