Die sogenannte Relation des Urteils
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gesetzt sind, so würde der Subjektsbegriff im disjunktiven Urteil derjenige
Begriff sein, der die bestimmte Mehrheit von Sachverhalten meint. Und der
Prädikatsbegriff würde der Begriff des »sich gegenseitig ausschließens« sein.
Daß aber diese Sinnesdeutung des disjunktiven Urteils nicht den Normal¬
sinn desselben trifft, ergibt sich schon daraus, daß in unserem obigen Beispiel
nicht die Sachverhalte, sondern die mit »Er« bezeichnete Person den eigent¬
lichen Subjektsgegenstand bildet, und daß der Prädikatsbegriff nicht im
Begriff des »sich gegenseitig ausschließens«, sondern in einer Zweiheit dis¬
junktiv verbundener Begriffe besteht. Unser Beispielsurteil ist also be¬
deutungsverschieden von demjenigen, welches jene Ausdeutung an seine
Stelle setzt. Der Normalsinn jenes Urteils gibt Antwort auf die Frage, wie
»Er« sich in bezug auf seine Aussage verhalte; der umgedeutete Sinn gibt
dagegen Antwort auf die andere Frage, wie sich die beiden Sachverhalte
zueinander verhalten. Das erste Urteil ist ein disjunktives, das zweite ist
aber ein kategorisches Urteil, da es unbedingt und ohne Disjunktion von den
beiden Sachverhalten behauptet, wie sie sich zueinander verhalten.
Der sprachliche Satz »Er sagt entweder die Wahrheit, oder er lügt« kann
allerdings wie alle disjunktiven Sätze gelegentlich einmal als der un¬
angemessene Ausdruck für die Behauptung dienen, daß sich mehrere Sach¬
verhalte gegenseitig ausschließen. Aber dies ist doch gewöhnlich nicht das,
was man mit diesen und ähnlichen Sätzen mitteilen wollte. Indem der Nor¬
malsinn des disjunktiven Satzes eine Disjunktion der Prädikate vollzieht,
setzt er allerdings voraus, daß die verschiedenen von ihm angeführten Prä¬
dikatsbestimmtheiten sich an dem einen Subjektsgegenstand gegenseitig aus-
schließen, daß also auch die entsprechenden Sachverhalte nicht zugleich be¬
stehen können. Aber seine entfaltete Behauptung geht doch nicht darauf,
diesen gegenseitigen Ausschluß der Sachverhalte festzustellen, sondern dar¬
auf, von dem Subjektsgegenstand unbestimmt eine der sich an ihm gegen¬
seitig ausschließenden Prädikatsbestimmtheiten zu prädizieren. Der Normal¬
sinn des disjunktiven Urteils setzt also nur implizite, unentfaltet mehrere
Sachverhalte in das Verhältnis des gegenseitigen Ausschlusses. Jene Aus¬
deutung des disjunktiven Urteils ist also nur eine Entfaltung einer Mit¬
behauptung, die zwar in dem Normalsinn impliziert, aber von dem explizier¬
ten Hauptsinn verschieden ist. Gerade auf dieser Implizierung, also darauf,
daß das disjunktive Urteil implizite auch mehrere Sachverhalte in ein gegen¬
seitiges Ausschließungsverhältnis setzt, beruht der Schein von Richtigkeit,
der jener seiner Umdeutung anhaftet.
Da die Sachverhalte, die nach dieser Umdeutung in ein gegenseitiges Aus-