Die sogenannte Relation des Urteils
107
nommen: »Er sagt entweder die Wahrheit, oder er lügt«. Dieses Urteil hat
einen Subjektsbegriff, nämlich »Er«. Es hat zwei Prädikatsbegriffe, nämlich
»die Wahrheit sagen« und »lügen«. Die Kopulafunktion der Hinbeziehung
ist hier eine positive doppelstrahlige, deren beide Strahlen auf denselben
Subjektsgegenstand konvergieren. Durch die Begriffe »entweder—oder« sind
die beiden Prädikatsbestimmtheiten einmal in gegenseitige Ausschließung
gegenüber dem einen Subjektsgegenstand gesetzt und zugleich als die allein
in dem gegebenen Fall in Betracht kommenden Bestimmtheiten erklärt. Dies
aber, daß die beiden Prädikatsbestimmtheiten sich an demselben Subjekts¬
gegenstand gegenseitig ausschließen und daß für den gegebenen Fall keine
weiteren Möglichkeiten als die beiden angeführten für die Prädizierung in
Betracht kommen, ist nicht im entfalteten Sinn des disjunktiven Urteils be¬
hauptet, sondern nur implizite unentfaltet mitbehauptet. Der Anspruch auf
Wahrheit, den jedes Urteil macht, umfaßt natürlich auch die Wahrheit dieser
beiden unentfalteten Mitbehauptungen, so daß das Urteil auch dann falsch
ist, wenn im gegebenen Fall die eine oder die andere dieser beiden Mit¬
behauptungen falsch wäre. So könnte das angeführte Urteil schon deshalb
falsch sein, weil in diesem Fall der betreffende Mensch sowohl die Wahrheit
sagt als auch lügt. Dies träfe auch wirklich zu, wenn das, was er sagt, zwar
an sich wahr wäre, er aber es irrtümlicherweise für falsch hielte und es trotz¬
dem als wahr behauptete. Es wären also beide Prädikatsbestimmtheiten an
demselben Subjektsgegenstand vereinbar, sie schlössen sich nicht gegenseitig
aus, wie implizite mitbehauptet war. Der andere Fall, daß nämlich noch eine
dritte Möglichkeit bestände, daß also die zweigliedrige Disjunktion hier
eine unvollständige wäre, läge dann vor, wenn der betreffende Mensch zwar
nicht etwas Wahres sagt, aber auch nicht lügt, sondern sich eben einfach
irrt. Die entfaltete Behauptung geht in dem angeführten Urteil auf die
positive Hinbeziehung unbestimmt einer von den beiden angeführten Prä¬
dikatsbestimmtheiten. Die Unbestimmtheit der Wahl zwischen den als sich
gegenseitig ausschließend gesetzten beiden Prädikatsbestimmtheiten gibt
hier der Behauptungsfunktion das eigentümliche Verbleiben in der Schwebe.
Daß diese Bedingtheit, dieses »in der Schwebe bleiben« der Behauptungs¬
funktion beim disjunktiven und beim hypothetischen Urteil gleichartig vor¬
kommt und es deshalb rechtfertigt, beide Urteile als bedingte dem katego¬
rischen als dem unbedingten gegenüberzustellen, ergibt sich auch daraus,
daß jedes disjunktive Urteil einer bestimmten Anzahl hypothetischer Urteile
äquivalent ist. So ist das zweigliedrige disjunktve Urteil äquivalent mit vier
hypothetischen, das dreigliedrige mit sechs hypothetischen Urteilen. In unse¬