Full text: Logik

Die sogenannte Relation des Urteils 
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nommen: »Er sagt entweder die Wahrheit, oder er lügt«. Dieses Urteil hat 
einen Subjektsbegriff, nämlich »Er«. Es hat zwei Prädikatsbegriffe, nämlich 
»die Wahrheit sagen« und »lügen«. Die Kopulafunktion der Hinbeziehung 
ist hier eine positive doppelstrahlige, deren beide Strahlen auf denselben 
Subjektsgegenstand konvergieren. Durch die Begriffe »entweder—oder« sind 
die beiden Prädikatsbestimmtheiten einmal in gegenseitige Ausschließung 
gegenüber dem einen Subjektsgegenstand gesetzt und zugleich als die allein 
in dem gegebenen Fall in Betracht kommenden Bestimmtheiten erklärt. Dies 
aber, daß die beiden Prädikatsbestimmtheiten sich an demselben Subjekts¬ 
gegenstand gegenseitig ausschließen und daß für den gegebenen Fall keine 
weiteren Möglichkeiten als die beiden angeführten für die Prädizierung in 
Betracht kommen, ist nicht im entfalteten Sinn des disjunktiven Urteils be¬ 
hauptet, sondern nur implizite unentfaltet mitbehauptet. Der Anspruch auf 
Wahrheit, den jedes Urteil macht, umfaßt natürlich auch die Wahrheit dieser 
beiden unentfalteten Mitbehauptungen, so daß das Urteil auch dann falsch 
ist, wenn im gegebenen Fall die eine oder die andere dieser beiden Mit¬ 
behauptungen falsch wäre. So könnte das angeführte Urteil schon deshalb 
falsch sein, weil in diesem Fall der betreffende Mensch sowohl die Wahrheit 
sagt als auch lügt. Dies träfe auch wirklich zu, wenn das, was er sagt, zwar 
an sich wahr wäre, er aber es irrtümlicherweise für falsch hielte und es trotz¬ 
dem als wahr behauptete. Es wären also beide Prädikatsbestimmtheiten an 
demselben Subjektsgegenstand vereinbar, sie schlössen sich nicht gegenseitig 
aus, wie implizite mitbehauptet war. Der andere Fall, daß nämlich noch eine 
dritte Möglichkeit bestände, daß also die zweigliedrige Disjunktion hier 
eine unvollständige wäre, läge dann vor, wenn der betreffende Mensch zwar 
nicht etwas Wahres sagt, aber auch nicht lügt, sondern sich eben einfach 
irrt. Die entfaltete Behauptung geht in dem angeführten Urteil auf die 
positive Hinbeziehung unbestimmt einer von den beiden angeführten Prä¬ 
dikatsbestimmtheiten. Die Unbestimmtheit der Wahl zwischen den als sich 
gegenseitig ausschließend gesetzten beiden Prädikatsbestimmtheiten gibt 
hier der Behauptungsfunktion das eigentümliche Verbleiben in der Schwebe. 
Daß diese Bedingtheit, dieses »in der Schwebe bleiben« der Behauptungs¬ 
funktion beim disjunktiven und beim hypothetischen Urteil gleichartig vor¬ 
kommt und es deshalb rechtfertigt, beide Urteile als bedingte dem katego¬ 
rischen als dem unbedingten gegenüberzustellen, ergibt sich auch daraus, 
daß jedes disjunktive Urteil einer bestimmten Anzahl hypothetischer Urteile 
äquivalent ist. So ist das zweigliedrige disjunktve Urteil äquivalent mit vier 
hypothetischen, das dreigliedrige mit sechs hypothetischen Urteilen. In unse¬
	        
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