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Die Lehre vom Urteil
überhaupt ist dagegen hier über die Positivität oder Negativität noch gar
nichts entschieden, vielmehr ist sowohl ein positives als auch ein negatives
kategorisches Urteil noch möglich gelassen. Schließlich besagt die allgemeine
Formel für das kategorische Urteil »S ist P« auch nicht, daß es notwendig
ein assertorisches Urteil sein müsse, sondern über die Modalität des kate¬
gorischen Urteils ist in dieser Formel noch gar nichts festgelegt. Vielmehr
kann das kategorische Urteil immer noch entweder ein problematisches oder
ein assertorisches oder ein apodiktisches sein. Das »Ist« in der Formel für
das kategorische Urteil ist also weder nach der Qualität der Hinbeziehung
noch nach der Modalität der Behauptung, sondern nur nach der Relation
der Behauptung, und zwar als unbedingt aber absolut behauptend, bestimmt
zu denken. Daß die Kopula nach diesen drei Richtungen der Qualität, der
Modalität und der Relation unabhängig variieren kann, zeigt den Unter¬
schied der drei Richtungen besonders deutlich.
Die Relation der Behauptung in einem Urteil kann nun noch in anderer
Weise eine bedingte sein als sie es im hypothetischen Urteil ist. Wenn näm¬
lich eine Mehrheit von Prädikatsbestimmtheiten auf einen und denselben
Subjektsgegenstand hinbezogen wird, an dem sie sich aber gegenseitig aus-
schließen sollen, so kann sicher sein, daß eine von diesen Bestimmtheiten
dem Subjektsgegenstand zukommt, aber noch unsicher, welche von der Mehr¬
heit es ist. Dann bleibt der Behauptungsschlag über der Mehrheit hinbezoge¬
ner Prädikatsbestimmtheiten noch unentschieden in der Schwebe. Es wird
zwar dann in dem Urteil tatsächlich etwas über den Subjektsgegenstand
behauptet. Aber durch die gemeinsame Hinbeziehung einer bestimmten
Mehrheit von sich gegenseitig an dem Subjektsgegenstand ausschließen
sollender Prädikatsbestimmtheiten wird die Behauptung in bezug auf jede
einzelne dieser Prädikatsbestimmtheiten für sich eine bedingte, nämlich
dadurch bedingt, daß jedesmal die anderen Prädikatsbestimmtheiten aus-
geschaltet werden. Der Behauptungsschlag ist zentriert auf die Hinbeziehung
einer und nur einer der in ein gegenseitiges Ausschließungsverhältnis ge¬
setzten Prädikatsbestimmtheiten, wobei unbestimmt gelassen ist, auf welche
der angegebenen Bestimmtheiten er treffen soll. Es ist das sogenannte dis¬
junktive Urteil, das diese Struktur zeigt und für das die Formel gilt: »S ist
entweder P oder Q«, wenn die Disjunktion der Prädikate eine zweigliedrige,
dagegen: »S ist entweder P oder Q oder R«, »S ist entweder Pi oder P2 oder
P3... oder Pn«, wenn die Disjunktion eine dreigliedrige, oder allgemein
eine n-gliedrige ist.
Als Beispiel für ein zweigliedriges disjunktives Urteil sei das Urteil ge¬