2. Kants Kritik der Metaphysik
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bringen vermag. Ich spreche nicht davon, daß sich in dem Zeit¬
abschnitt vor dem Kritizismus schon eine allerorten offenkundige
Abwendung von dem dogmatischen Rationalismus vollzog, und daß
die Einsicht, er entspreche nicht mehr ganz dem neuen Lebens¬
gefühle, schon bis zur Selbsterkenntnis und Formulierbarkeit vor¬
geschritten war. Aber die Kritik an ihm und gegen ihn war vor¬
bereitet, die Auflehnung gegen ihn pochte an seiner Tür; in der
kantischen Tat kam die Freiheit, die sich in der Tiefe des Zeit¬
bewußtseins gegen ihn regte, zu methodisch begründetem und be¬
grifflich abgeklärtem Durchbruch.-
Verwies Kant die Metaphysik auch aus dem Reiche der positiven
Wissenschaften, so verwies er sie damit keinesfalls überhaupt aus
dem Reiche des Seienden. Ganz anders als die späteren Vertreter
von kritischen Einwänden gegen säe, war er weit davon entfernt,
in ihr nichts als eine begriffliche Wesenlosigkeit und einen ent¬
behrlich gewordenen Überrest längst überwundener Wissensstufen
zu sehen, und sie mit Bann und Acht zu belegen. Seine erkenntnis¬
theoretische Kritik sollte keine Ächtung der Metaphysik einschließen
und zeitigen und nicht das Geistesleben von ihr befreien. Sie sollte
umgekehrt die Metaphysik aus den Fäden einer Verbrüderung be¬
freien, die ihr auf die Dauer nur zum Unheil gereichen konnte. In
genau bezeichenbarem Unterschied zu vielen Kantianern und vielen
Neukantianern, die die Erkenntnistheorie als das durchschlagende
Mittel zur Zerstörung der Metaphysik verwenden wollen und ver¬
wenden zu können hoffen und sich mit diesem Beginnen, da es auf
einer Selbsttäuschung beruht, doch nur einer aussichtslosen Unter¬
nehmung hingeben, bahnt die kantische Art der Kritik ein adäquates
Verständnis und damit die Möglichkeit zu einer adäquaten Grund¬
legung und einem angemessenen Aufbau der Metaphysik an. Die
ungeheuer positive Seite der kantischen Kritik liegt nach der Rich¬
tung einer deutlichen und sicheren Vorbereitung für jene Entwick¬
lung, die im spekulativen Idealismus dann die Form der Selbst¬
erfassung des Logos durch die Metaphysik annahm.-
Wir haben die Ausführungen in den letzten Absätzen (vgl. S. 60)
darum gemacht, weil wir in der kantischen Erkenntnistheorie nicht
eine von außen her an die Metaphysik herantretende Kritik der¬
selben erblicken, sondern in ihr das Muster einer immanenten Kritik
vor uns haben und sie als solche würdigen. Diese Kritik ist ganz
erfüllt von dem Verständnis und von der Hochachtung für die Meta-
Liebert, Dialektik. 5