Dialektik und Philosophie
55
„Kritik“ abhängig sei von dem Vorbild der Newtonschen Physik.
Das Urteil, das in Kant und in der Philosophie Kants den mecha¬
nistischen Standpunkt vertreten findet, das Kant und seinen
Kritizismus im wesentlichen an den, in diesem naturwissenschaft¬
lichen Mechanismus zum Ausdruck gelangenden Sonderrationalismus
anschließt, wird eine vollständige Änderung erfahren im Falle der
Selbständigkeit beim Durchdenken des gewaltigen und höchst
verwickelten Problems, das sich hinter dem abgegriffenen Stich¬
wort „Kritische Philosophie“ verbirgt. Über kaum eine andere
philosophische Richtung hat sich eine so große Zahl von festen,
gleich Erbübeln weiterwuchernde Fehlansichten eingenistet wie über
die Kritik Kants. Bequemlichkeit, Anhänglichkeit an einmal über¬
lieferte und immer wieder vorgebrachte Deutungen, die weniger
von den ersten kantischen als vielmehr von den ersten neukanti-
schen Schulen entwickelt wurden, ferner der begreifliche Wunsch,
mit dem Kant-Problem möglichst schnell fertig zu werden, nicht
zuletzt die immer wieder zu beobachtende Neigung und Gepflogen¬
heit, in handlichen und landläufigen Schematen zu denken und selbst
große geschichtliche Erscheinungen durch allgemeine Schlagworte
zu kennzeichnen, alles das hat eine wahre Bergwand von ebenso
äußerlichen wie unzutreffenden Meinungen über die Voraussetzungen
und den Sinn und Wert der kritischen Systematik aufgetürmt. In
den Bemühungen um eine Erklärung und um ein Verständnis dieser
Systematik bekundet sich oft nicht bloß theoretisches Mißverstehen,
sondern man kann nicht selten gewahren, daß sich bereits in dem
Ansatz zu einer Darstellung der Philosophie Kants bestimmte
dogmatische Vorurteile bis hinein zu parteipolitischen und konfes-
sionalistischen Voreingenommenheiten geltend machen. Und nach¬
dem man sich einen Popanz Kant zurechtgekünstelt hat, fällt es
natürlich nicht schwer, diesen Popanz z. B. von dem Stand¬
punkt des Irrationalismus oder von dem der Lebensphilosophie ab¬
zustechen, ist es leicht, Kant als überlebt hinzustellen, ist es leicht,
Kant zu widerlegen. Die Geschichte derjenigen Darstellungen, die
der kritischen Philosophie zuteil geworden sind, liefert in mehr als
einem Fall einen lehrreichen Beitrag zur Geschichte und zur Psy¬
chologie der menschlichen Irrtümer. Es liegt ein gewaltiger Gegen¬
stand vor, und indem die Kraft und die Kunst der Interpretation
um seine Bewältigung ringen, entzündet sich so mancher weg¬
weisende Feuerschein, schwelt aber auch so mancher dumpfer und
düsterer Rauch auf.