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Einleitung
den. Der Stolz der exakten Naturwissenschaften hat eine nur zu
berechtigte Grundlage. War es während des siebzehnten und acht¬
zehnten Jahrhunderts jedoch vollauf verständlich, daß jene Wissen¬
schaften sich als die einzig legitimen Repräsentanten des Geistes
strengster objektiver Erkenntnis betrachteten, so hat sich das Bild
nunmehr in nicht geringem Grade gewandelt. Die tiefe Reform¬
bedürftigkeit der Mathematik und der mathematischen Natur¬
wissenschaften, von der uns angesehene Naturwissenschaftler eine
so eindringliche Mitteilung geben, hat die Wertschätzung der
Geisteswissenschaften um nicht wenige Striche in die Höhe gehoben.
Nunmehr wird auch diesen Wissenschaften die Berechtigung zur Ver¬
tretung des Wissenschaftsbegriffs zuerkannt; außerdem klärt sich mit
zunehmender Entschiedenheit das Anrecht auch der Geisteswissen¬
schaften darauf wieder, zur Grundlegung der Philosophie ihren
Beitrag beizusteuern, wie sie das schon einmal im Mittelalter getan
haben. Und sollte nicht die verständnisvolle Würdigung, die seit
einiger Zeit, dank der Bemühungen von Hertling, Baeumker und
anderen katholischen Erforschern der mittelalterlichen Philosophie,
der Scholastik zuteil wird, in einem einleuchtenden Zusammenhänge
mit der Erkenntnis desjenigen Wertes stehen, den die Geisteswissen¬
schaften für die Substruktion und für den Autbau einer philo¬
sophischen Systematik haben? Verhehlen wir es uns nicht: Zwischen
der Naturwissenschaft auf der einen Seite und der Kulturwissen¬
schaft auf der anderen herrscht eine gewisse Rivalität. Diese Rivali¬
tät tritt in einer Doppelform ans Licht. Einmal neigt jede Wissen¬
schaftsgruppe aus einer Art von natürlichem Selbsterhaltungstriebe
dahin, für sich den Wissenschaftsprimat in Anspruch zu nehmen. Als
wenn sie eigentlich und ausschließlich alle diejenigen Forderungen
restlos erfülle und allein zu erfüllen imstande sei, die an den Begriff der
Erkenntnis gestellt werden können, die in ihm liegen, und die eine
„wahre Wissenschaft“ erfüllen müsse. Andererseits tritt diese Rivali¬
tät in dem Wunsche und in dem Rechte zutage, über dieses theoretische
Primat hinaus ein überlegenes Ansehen in bezug auf ihre praktische
Bedeutung einzuernten und zu genießen. Was diese praktische Bedeu¬
tung anlangt, so handelt es sich, von ganz banalen Auswertungen ab¬
gesehen, um diejenige Wichtigkeit, die eine der beiden Gruppen der
positiven Wissenschaften für die Entwicklung einer umfassenden Welt¬
anschauung und Lebensdeutung zu besitzen bzw. zu gewinnen vermag.
Damit ist die so ungemein anregende Frage nach der Leistungs¬
fähigkeit der positiven Wissenschaften für die Philosophie aufge¬