3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Grundgestalten 461
Aber auch der Kritizismus ist durch keine, unter dem Ge¬
sichtspunkt des dogmatischen Rationalismus erfolgende
Gegenargumentation zuwiderlegen, zu beseitigen. Angenom¬
men, daß in der Kritik der klassischen Gottesbeweise durch Kant man¬
ches nicht in Ordnungist, daßdergroße Kritikernichtimmerden Sinn
und den grundlegenden Ansatz jener alten Beweise erfaßt hat, daß
er nicht seiten vorbeiargumentiert, so besagen diese Mißverständ¬
nisse, falls sie vorhanden sind, dennoch nichts gegen das innere
Recht und gegen die Folgen und Ergebnisse jener Kritik. Denn
diese Kritik erwächst aus Voraussetzungen und bewegt sich, inner¬
lichst gesehen und gewertet, in Gedankenbahnen, die aus Ge¬
wissens- und Freiheitsentscheidungen, die aus metaphysisch-norma¬
tiven Einstellungen zum Absoluten stammen. Aus dieser Erkenntnis
ergibt sich die Einsicht, daß die Kantische Widerlegung der
Gottesbeweise selber zu den im höchsten Sinne unwider¬
legbaren geistigen Großtaten gehört, daß sie metaphysisch
auf sich selber beruht und in sich selber ruht. Und deshalb ist auch
das Bekenntnis zu dieser Widerlegung eine aus Freiheit
hervorgehende Gesinnungshandlung, ebenso wie Kant eine
ihm eigentümliche positive Art der ,,Beweise“ für Gott und das
Absolute vertritt.-
In zwei machtvollen Typen entfaltet sich der Gesamtbegriff
der Philosophie. Seine systematische Einheit prägt sich in der
konstruktiven Antinomie von Dogmatismus und Kriti¬
zismus aus. Ist die Notwendigkeit und die außerordentliche Frucht¬
barkeit dieser Antinomie durchschaut, dann ist damit zugleich der
tiefste Grund für die Problematik der Philosophie erkannt. Aber
wie diese Antithese in der einen Richtung Folge und Ausdruck,
Ergebnis und Niederschlag der übergreifenden Synthese ist, die den
Begriff der Philosophie begründet und möglich macht, so ist sie
in der anderen Richtung doch auch wieder die Voraussetzung und
die Ermöglichung für den korrelativen Reichtum und für die Fülle
der philosophischen Arbeit und der philosophischen Entwicklungen.
Nicht zuletzt verdanken wir jedoch gerade dem Kritizismus diese
freie und vorurteilslose Würdigung und Anerkennung der ihm polar
gegenüberstehenden Gedankenform und Weltanschauung. Er ist es,
der uns den Dogmatismus als den zugehörigen korrelativen Faktor
verstehen lehrt. Nicht zu einem feindlichen Ausschluß, sondern zu
einer unbefangenen und unvoreingenommenen Prüfung und Schät¬