2. Die Wendung zur Dialektik
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schien die Dialektik ihm die Möglichkeit für ein angemessenes be¬
griffliches Erfassen des Momentes des Werdens zu bieten, d. h.
des eigentümlichen geschichtlichen Werdens, an das, wie Troeltsch
mit geflissentlicher Wiederholung immer aufs neue hervorhob,
mit keinem Kausalitätsbegriff heranzukommen ist (z. B. S. 247
u. ö.). Zweitens glaubte er, in der Dialektik das unaufgebbare
Recht des Individualitätsbegriffs ganz und gar gewahrt und den
historischen Eigengehalt dieses Begriffes, seine Autonomie gegenüber
allem nivellierenden, rein quantitativ gerichteten und verallge¬
meinernden naturwissenschaftlichen Mechanismus gesichert zu sehen.
Die Dialektik kennt, so drückt er sich aus, „das Allgemeine über¬
haupt nur in individuellen Besonderungen“; durch sie ist es möglich,
„jeden Umkreis solcher Besonderungen auf sein individuelles
Prinzip und Strukturgesetz, auf seine Gesamtphysiognomie und
seine besondere Bewegungsart zu analysieren“ (S. 331; vgl. auch
S. 246, 247).
3. Die Betonung des Individualitätsbegriffes sowie diejenige der
Fähigkeit gerade der Dialektik zur Wahrung dieses Begriffes und
seiner Einbeziehung in den Erkenntnis- bzw. Verstehenszusammen¬
hang legt die Frage nahe, wie sich die süd-westdeutsche Schule
zur Dialektik verhält. Denn Heinrich Rickerts Werke zur Grund¬
legung der historischen Wissenschaften und zur Klarstellung der
kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung dienen der Aufgabe, die
Unentbehrlichkeit und die logische Eigengeltung des Individualitäts¬
begriffes für die Erkenntnis und den gedanklichen Aufbau der ge¬
schichtlichen Welt darzutun. Da darf nun zunächst darauf hin¬
gewiesen werden, daß Jonas Cohn, der jener Schule zuzurechnen
ist, eine eindringende „Theorie der Dialektik“ veröffentlicht hat.
Diese Theorie der Dialektik ist ihm nichts mehr und nichts weniger
als geradezu eine „Formenlehre der Philosophie“ und das dialek¬
tische Denken der Weg und das Mittel, um der Philosophie zur
Selbstbesinnung, zur Erfassung ihres Wesens und Begriffes zu ver¬
helfen (S. 3). Deshalb liege bereits in dem Gange des dialektischen
Denkens selber eine grundsätzliche und wesentliche Erkenntnis (S. 316
u. ö.). In ihm wird sowohl das Subjekt der Philosophie, d. h. das Ich oder
der denkende Geist, als auch ihr Objekt, d. h. der Begriff des Ganzen,
der einheitlichen Ganzheit als des substantiellen Grundes aller Ob¬
jekte, entwickelt. Indem diese philosophischen Grundbestimmungen
und Grundwerte sich nach Jonas Cohn in ihren dialektischen Selbst¬
entfaltungen erfassen und ihren Inhalt ausdrücken, besteht für ihn
Liebert, Dialektik. 26