Full text: Grundlegung der Dialektik

2. Die Wendung zur Dialektik 
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reichender Beleg. Von Dilthey abhängig ist er ferner in seiner außer¬ 
ordentlichen, jedoch zum Relativismus führenden historistischen Ge¬ 
rechtigkeit und Unvoreingenommenheit, die ihn davon abhielt, einem 
einzelnen philosophischen Standpunkt oder System den vollständigen 
Vorrang vor einem anderen zuzusprechen. Er hat es zwar als seine Auf¬ 
gabe betrachtet, der „Anarchie der Systeme“ ein Ende zu bereiten, 
wie er unter wörtlicher Bezugnahme auf Dilthey in seiner bekannten 
Universitätsfestrede „Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer 
Dinge“ (1916) gesagt hat. Doch auch sein Schicksal war es und 
mußte es sein, die angestrebte strenge und vereinheitlichend-kon- 
struktive Systematik nicht zu erreichen. Die Wendung zum Absolu¬ 
ten, auch die zur Anerkennung der Absolutheit des Begriffs floß 
für ihn aus einer persönlichen Entscheidung, aus einer Tat des 
Gewissens, dem die Verantwortung für diese Wendung übertragen 
wurde, nicht jedoch aus einer rein logischen und konstruktiv-syste¬ 
matischen Geisteshaltung. Wie jeden anderen Grundbegriff, so hat 
er auch die Idee der Dialektik nicht abgelöst von den historischen und 
psychologischen Umgrenzungen und Einschränkungen ihres Ent¬ 
stehens. Er selber hat sich der Dialektik noch nicht im eigentlichen 
Sinne als eines schöpferischen Denkinstrumentes bedient, auch keine 
genauere Theorie derselben in Angriff genommen. Aber er liebte sie 
und war, wo er sie bei anderen fand, ihr eifriger Freund und An¬ 
erkenner. Daß er nicht entschlossenen Mutes den Schritt zur kate- 
gorialen Verwendung der Dialektik tat, ist vielleicht der eigentliche 
Grund dafür, daß ihm die Ausbildung einer eigenen Geschichts¬ 
methodologie und Geschichtsphilosophie versagt blieb. 
Immerhin hat er die Materialien angegeben, aus denen er seine 
eigene Theorie glaubte dereinst aufbauen zu können (Der Historismus 
und seine Probleme, S. 240 u. ö.). Und unter diesen Materialien 
steht fast an erster, jedenfalls an sehr bevorzugter Stelle der durch¬ 
aus dialektisch zu verstehende und zu gebrauchende Entwicklungs¬ 
begriff, für den er eine entschiedene Vorliebe hegte. So stellt sein 
letztes großes Werk in seinen Hauptzügen eine tiefschürfende kritische 
Geschichte des historischen Entwicklungsbegriffs dar in Verbindung 
mit der Frage, wie von diesem Begriff aus „das logische Problem der 
Geschichtsphilosophie“ überhaupt zu formulieren und zu lösen sei. 
Er hat geradezu erklärt, der historische, also dialektische „Entwick¬ 
lungsbegriff hat eine universale und philosophische Bedeutung, die 
immer wieder aus ihm hervorbrechen muß“. Wenn dieser Begriff 
auch noch nichts über den Inhalt der historischen Ziel- und Sinnidee
	        
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