Full text: Grundlegung der Dialektik

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V. Hauptformen der Dialektik 
Aber ganz ebenso ist es mit dem allgemeinen Kulturwert des 
historischen Wissens bestellt. Auch seine Geltung beschränkt sich 
nicht auf das intellektuelle Reich der Erkenntnis; es hat sich not¬ 
wendig auch in unsere Gesinnung, in unser Weltgefühl eingeschlichen, 
es hat auch von unserer Seele Besitz genommen. Ich habe in meinem 
Buche „Die geistige Krisis der Gegenwart“ (S. 66ff.) den Versuch 
gemacht, diesen seelischen Einfluß der historischen Wissenschaften, 
der sich in einer ungeheueren Historisierung und Relativierung 
unseres Innenlebens ausprägt, zu schildern und in seinen Folgen 
darzustellen. In dem vorliegenden Zusammenhang kommt es mir 
vor allem darauf an, die Wertsteigerung des Eindruckes, den die Re¬ 
alität der Geschichte mittels der historischen Wissenschaften auf 
uns ausübt, zu betonen und im Anschluß daran sowohl die 
gemütsmäßige Einwirkung dieses gesteigerten Ansehens als auch 
die tragische Erkenntnis zwischen dem, was in der realen ge¬ 
schichtlichen Welt vorgeht und durch keinen schönen Schein 
gemildert werden kann, und dem, was wir als sittliche Wesen 
fordern, deutlich auszusprechen. Wir können weder die ungeheure 
Macht der Realität der historischen Wirklichkeit, noch das Wissen 
von dieser Macht, noch das Ethos dieses Wissens übersehen. Was 
wir sind, sind wir mit unter dem bestimmenden Einfluß dieser drei 
Momente geworden. Wir vermögen uns ihrem Eindruck nicht mehr 
zu entziehen, wie das von dem Standpunkt einer transzendierenden 
Religiosität oder von dem eines die Welt der Geschichte mathema¬ 
tisch konstruierenden Rationalismus aus einstmals der Fall war. 
Die Welt des geschichtlichen Seins erhebt sich vor uns mit solcher 
Nachdrücklichkeit, daß die schwere Problematik ihres Seins es streng 
verbietet, dieses Sein als eine etwa nur nebensächliche Größe irgend¬ 
wie zu vernachlässigen. 
Damit ist der Dialektik und Antinomik zwischen Sein und Sollen 
erst ihre volle Strenge gewonnen. Der Begriff des Seins verliert 
seine abstrakte Blässe; er verdichtet und verwirklicht sich für 
unser Bewußtsein zu der Schwere der geschichtlichen Welt, mit 
deren Realität wir unaufhörlich zu rechnen haben, in deren Rea¬ 
lität wir unlösbar verflochten sind. Zugleich erhält dadurch die 
Idee des Sollens vertiefte und gleichsam verlebendigte Kraft. Denn je 
mehr wir uns in die empirische Welt der Geschichte verstrickt wissen, 
um so heftiger regt sich das Bedürfnis nach einem allen geschicht¬ 
lichen Vorläufigkeiten und Relativitäten enthobenen, absoluten, 
seiner absoluten Sinngeltung nach in sich ruhenden Punkt.
	        
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