Full text: Grundlegung der Dialektik

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V. Hauptformen der Dialektik 
dem Eindringen in die eigentümliche Problematik der geistes¬ 
wissenschaftlichen Begriffsbildung und Begriffe. So sehr Dälthey 
auch nach einer theoretischen Grundlegung der Geisteswissen¬ 
schaften strebt und das Begriffssystem aufzudecken sich bemüht, 
auf dem der Bau jener Wissenschaft errichtet ist, so sehr ist dieser 
ganze Versuch dennoch von einem tiefen Subjektivismus erfüllt. 
Dieser Zug ist zunächst sicherlich bedingt durch Diltheys persön¬ 
liche Einstellung zur geschichtlichen Welt. Es ist schon oft betont 
worden, daß ihm die reine und strenge Systematik nicht lag, ja, 
daß er sie bewußt ablehnte. Denn er sah in ihr einen Gegner des 
geschichtlichen Auffassens, eine Vergewaltigung der historischen 
Fülle. Diese Fülle widerspricht nach seiner Meinung der starren Ver¬ 
kettung der Begriffe. Selbst die Philosophie ist ihm nichts weniger 
als ein einheitlicher Inbegriff reiner Begriffe. Deshalb ist auch ihr 
gegenüber jede logizistische Interpretation im Unrecht. Diejenige Ver- 
fahrungsart, durch die nach ihm die Aufgabe einer adäquaten Er¬ 
fassung der philosophischen und der geistig-geschichtlichen Welt in 
dem ganzen ungeheuren Reichtum und in der ganzen Verwickeltheit 
ihres Wesens gelöst zu werden vermag, hat er selber einmal folgender¬ 
maßen gekennzeichnet: ,,Sie erklärt im Gegensatz gegen Hegel die 
Entwicklung der Philosophie nicht aus den Beziehungen der Be¬ 
griffe aufeinander im abstrakten Denken, sondern aus den Verände¬ 
rungen in dem ganzen Menschen nach seiner vollen Lebendigkeit 
und Wirklichkeit. Sonach sucht sie den Kausalzusammenhang zu 
erkennen, in welchem die philosophischen Systeme aus dem Ganzen 
der Kultur entstanden sind und auf dasselbe zurückgewirkt haben. 
Jede im philosophischen Denken erfaßte neue Stellung des Bewußt¬ 
seins zur Wirklichkeit macht sich gleicherweise im wissenschaftlichen 
Erkennen dieser Wirklichkeit, in den Wertbestimmungen des Gefühls 
über sie und in den Willenshandlungen, der Führung des Lebens 
wie der Leitung der Gesellschaft geltend. Die Geschichte der 
Philosophie macht die Stellungen des Bewußtseins zu der Wirklich¬ 
keit, die realen Beziehungen dieser Stellungen aufeinander und die 
so entstehende Entwicklung sichtbar“ (,,Der Aufbau der geschicht¬ 
lichen Welt in den Geisteswissenschaften“. Gesammelte Schriften, 
7. Band; und ähnlich noch an vielen Stellen). 
Diese dynamische Methode ist ein unmittelbarer Ausdruck der 
intensiven, oft leidenschaftlich und innerlichst bewegten Anteil¬ 
nahme Diltheys an den Personen und Leistungen der geschichtlichen 
Welt. Bei allen seinen Erforschungen dieser Welt fesselte ihn nicht
	        
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