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Einleitung
schon in seinen Jugendschriften deutlich ausgesprochenen und
während seiner ganzen philosophischen Entwicklung immer wieder
hervorbrechenden Harmonismus und Humanismus, die ihre tiefste
Wurzel vielleicht in seiner christlich-religiösen Natur haben und
somit von der Idee der Erlösung beherrscht werden, die tiefe Tragik,
die im Wesen der Dialektik liegt, und die fort und fort berücksichtigt
und in ihrer Tragik anerkannt und aufrechterhalten werden will.
Seine gewaltige systematische Kraft meistert die Dialektik in zu
souveräner Form: Hinter ihr erhebt sich die herrschende Kraft
eines Monismus, der die Gegensätze im Wesen des Begriffs und die
tragischen Verschlingungen in der Aporetik der Wirklichkeit zu¬
gunsten der Einheit der Vernunft immer wieder „aufhebt"1). Hat
ihm gegenüber der „Dualist“ Kant die Aporetik der Wirklichkeit
und die Problematik des Begriffes nicht unentwegter und gleichsam
heroischer festgehalten? Hegel beseitigt die immanente Krisis, die
das unausrottbare Kennzeichen aller wahren Dialektik ist; er gibt
sich dieser Krisis nicht bis zu ihrem letzten und sei es auch risiko¬
erfüllten Ende hin. Er traut der Vernunft die unbedingte Über¬
legenheit zur Lösung aller Probleme und zur Bemeisterung aller
Antinomien des Daseins zu. Kant, der Kritiker, behält hingegen
sein Auge immer offen für die Krisis der Dialektik und gebraucht
die dialektische Methode weniger als Werkzeug zum Ausgleich und
zur Lösung der Probleme, als vielmehr zu ihrer Erarbeitung, Auf¬
stellung und Durchleuchtung, um gerade das, was sie an problem¬
erzeugender Kraft in sich tragen, in Bewegung zu setzen.
In der Art, wie beide Denker die Dialektik verstehen und ver¬
wenden, prägt sich ein Urgegensatz von philosophischen
Typen und von weltanschaulichen Einstellungen zur
Problematik der Wirklichkeit aus. Kraft der Dialektik denkt
*) Diese „Aufhebung” der Dissonanzen der Wirklichkeit berechtigt in ge¬
wissem Sinne zu der Behauptung, daß Hegel die Wirklichkeit vergewaltigt
habe. Denn was ist eine Wirklichkeit, deren Gegensätzlichkeiten getilgt oder
nicht als Gegensätzlichkeiten anerkannt bleiben, sondern deren Sein restlos
aus der Vernunft abgeleitet und also zur Harmonie geglättet wird? Die De¬
duktion der Wirklichkeit nimmt, wie Heinrich Maier treffend sagt, bei Hegel
den Charakter einer „Verquickung des inhaltlich-dynamischen Gesichtspunktes
mit dem transzendental-deduktiven” an und die auf diese Weise gewonnene natur-
und geistesphilosophische Spekulation hat zu der oft getadelten „metaphy¬
sischen Vergewaltigung der positiv-wissenschaftlichen Wirklichkeitserkenntnis”
geführt (Heinrich Maier, Wahrheit und Wirklichkeit S. 552).