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IV. Die Metaphysik der Dialektik
währt sich an dem Geist der Philosophie, sobald dieser Geist der
Philosophie in seiner vollen Dialektik und in der ganzen Dynamik
antinomisch-synthetischen Denkens verstanden und anerkannt wird.
Das soll besagen, daß diese Dialektik keineswegs nur ein theoretisch
gemeintes und nur theoretisch gültiges Erkenntnisprinzip bedeutet,
sondern daß sie weit darüber hinaus die Geltung eines metaphysischen
Weltprinzips in sich trägt.
Vielleicht hat also kein anderes Kulturgebiet die Systematik so
nötig als die Philosophie, weil nirgendwo anders der Strom der dialek¬
tischen Bewegtheit und Unruhe so stark flutet wie bei ihr, weil kein
anderes Kulturgebiet eine solche, in sich vielverschlungene und seine
Einheit bedrohende Fülle von Motiven, Tendenzen, Auffassungs-,
Wertungs- und Deutungsweisen auch nur als Möglichkeiten seiner
Existenz und als Rechtsausweis für seine Geltung umspannt, wie
das hinsichtlich der Philosophie der Fall ist. Gerade ihre tiefe
Problematik und Dialektik ist es, durch die die Philosophie sich zur
Anwendung des heroischen Gewaltmittels der Systematik gezwungen
sieht. Weil alle Philosophie so unausdenkbar dialektisch und proble¬
matisch ist, gehört zu ihrem Begriff die Idee des Systems, ist diese
Idee eine der unaufgebbaren Aprioritäten der Philosophie.
Blicken wir in diese Dialektik und Problematik jetzt noch schärfer
hinein.
Alle philosophischen Systeme, ganz gleich, welche Richtung sie
vertreten, welcher Qualität sie sein mögen, beanspruchen die Aner¬
kennung, eine Lösung der metaphysischen Probleme zu bringen.
Es handelt sich nicht um eine absichtlich oder unter Vorbehalten
aufgestellte Fiktion; sie tun nicht so, als ob sie die ,,Welträtsel“
gelöst hätten, sondern bei denkbar stärkster Ablehnung jedes noch
so leisen Relativismus gilt ihnen ihr System, gilt ihnen ihre Lösung
als die Lösung, als die einzig mögliche, als die einzig zulängliche,
als die einzig zulässige Lösung. Die Idee der „Lösung“ ist für sie eine
ihrer Leitideen, und die Idee ihrer Lösung ist für sie die Voraus¬
setzung für alle Arbeit an ihrer Systematik.
Aber jener soeben berührte Anspruch der philosophischen Systeme,
der nämlich, die metaphysischen Probleme nun wirklich und end¬
gültig klargestellt und gelöst zu haben, zerschellt immer wieder,
so oft er auch erhoben, mit allen möglichen Beweisgründen vertreten,
mit allen möglichen Beweisstützen versehen worden ist. Er zerschellt
vor der oft erschütternden Erkenntnis eines doch noch ungelösten