2. Die Dialektik der philosophischen Fragen 243
auch nicht die Spur einer Gemeinschaft. Denn die von uns gemeinte
Problematik, Antinomik und Dialektik hat für die philosophische
Systematik die Bedeutung der sichersten systematisierenden Form¬
idee und Formkraft.
Aus welchem anderen, aus welchem tieferen Grunde drängt aber
alle philosophische Arbeit mit so unentwegter Beharrlichkeit zur
Systematik, wenn nicht aus dem, in dieser Systematik einen Wall
und Schutz gegen die in ihr wühlende dynamische Dialektik, die
zugleich Systematik ist, aufzurichten? Denn von einer solchen
urlebendigen Dynamik ist die Philosophie erfüllt, erfüllt bereits in
dem ersten Ansatz ihrer Probleme und in der sachlichen wie subjek¬
tiven und persönlichen Motivierung ihrer Probleme. Das soll nicht
heißen, daß nicht auch in der Religion, in der Kunst, in der Wissen¬
schaft eine solche Dynamik und Dialektik am Werke wäre. Welches
Kulturgebiet könnte sie entbehren oder restlos fernhalten? Würde
es damit nicht sein Leben, seine „Möglichkeit“, seine schöpferische
Voraussetzung preisgeben? Welches Gebilde ist frei von ihr? Sie
gehört zum „Wesen“ jedes Seins; sie ist eine seiner Grundgesetzlich¬
keiten, eine seiner metaphysischen Bedingungen, einer seiner wesent¬
lichen Formungsfaktoren. Denn der Geist ist Prozeß und Bewegung,
aber Bewegung nicht im physikalischen, zahlenmäßig bestimmbaren
Sinne, auch nicht im Sinne einer mechanischen Dynamik, sondern
Bewegung in der Dialektik und als Dialektik.
Die dialektische Dynamik der Philosophie unterscheidet sich von
derjenigen der anderen Geistes- und Kulturgebiete durch ihre quali¬
tative Außerordentlichkeit, durch ihre Unbedingtheit, Unabge-
schwächtheit und Unabschwächbarkeit, in ethisch-ästhetischen Kate¬
gorien ausgedrückt: durch ihren Heroismus, und zwar durch einen
Heroismus in ganz tragischer Gestalt! Mit anderen Worten: Es ist
die Eigentümlichkeit der Philosophie, daß die dynamische Dialektik
als Gedankenform und als regulatives Prinzip hier zu freiester Ent¬
ladung und zu grundsätzlich ungehinderter Entfaltung gelangt. Diese
Dialektik offenbart sich hier sozusagen in ihrem Ansich; sie erschließt
sich hier in ihrer vollen Kraft und in ihrer ganzen Tiefe. Und insofern
als sie den Grundzug und die Strukturform des menschlichen
Geistes darstellt, wenn nicht sogar des Geistes überhaupt, also einer
der Hauptträger aller geistigen und aller seelischen Erscheinungen
ist, offenbart und bekundet sich in ihr eine der wesentlichsten Be¬
gabungen des menschlichen Geistes, wenn nicht sogar das Wesen
des Geistes überhaupt. Das Wesen des Geistes erleuchtet und be-
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