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IV. Die Metaphysik der Dialektik
System. Die Dialektik der Interpretationen und die Dialektik der
Lösungen erheben sich oft bis zur vollen Höhe eines Mythos. Die
meisten Interpretationen sind, und zwar aus völlig erklärlichen Grün¬
den, durchaus mythische Bilder, wie wir schon früher angedeutet
haben (S. 204f.). In dem Mythos, den eine Zeit oder ein einzelner
Ausleger von dem Wesen eines Systems zeichnet, befreit die Deutung
sich aus der Bewegung der Dialektik. Sie schafft sich in ihm ein
festes, ein als bündig und schlüssig anerkanntes Bild des betreffen¬
den Systems. Ein solches Bild, ein solcher Mythos wäre nicht
möglich und nicht nötig, wenn die in dem Mythos gedeutete System¬
gestalt nicht dialektischer Natur wäre. Ohne die Voraussetzung der
Dialektik würde eine Interpretation verblassen zu dem Schatten
eines formalen Nachdruckes der Lösung. Alsdann aber wäre sie
keine Interpretation, sondern lediglich eine nichtsbesagende tech¬
nische Abschrift.
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen:
Die Dialektik des Problems.
Die Dialektik der philosophischen Lösungen ist jedoch gleichsam
nur die Außenseite und Oberfläche der philosophischen Grund- und
Urdialektik. Die Erkenntnis des Wesens dieser Urdialektik und die
Überzeugung ihrer Unaufhebbarkeit und zugleich ihrer Fruchtbarkeit
steigern und stärken sich bei einer Betrachtung der Struktur der philo¬
sophischen Fragen. Denn sobald die Frage selber zum Problem
gemacht wird, d. h. die Frage in ihrer grundsätzlichen philosophischen
Bedeutung, also der Begriff der Frage, dringen wir tiefer in das Herz
jener eigentümlichen Geistigkeit, Geisteshaltung und objektiven
Geistesstruktur ein, die allgemein als Philosophie bezeichnet wird.
Schon in dem der Philosophie eigentümlichen und oft rücksichts¬
los sich äußernden Streben nach Vereinheitlichung und Systematik
spricht sich ein unmittelbarer und nicht mißzuverstehender Hinweis
auf jene Antinomik und Problematik aus. Daß dabei der Begriff
der Antinomik und Problematik nicht im Sinne des Relativismus,
nicht im Sinne der Behauptung zu nehmen ist, als sollte gesagt
werden, daß in der Philosophie alles ,,antinomisch“ und „problema¬
tisch“ sei, braucht nicht ausdrücklich betont zu werden. Der hier
vertretene Gedanke der immanenten und innerhalb der eigentlich
philosophischen Betrachtungsweise nicht restlos auflösbaren antino¬
mischen Dialektik der Philosophie hat mit irgendeinem Skeptizismus