Full text: Grundlegung der Dialektik

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IV. Die Metaphysik der Dialektik 
dadurch zu lösen, daß sie alle diese Beziehungen zu „Problemen" 
macht; sie strebt für sich die Gewinnung einer Gestalt an, die darum 
von jeder geschichtlichen und menschlichen Einschränkung frei ist, 
weil sie sich auf Grund einer ungeheuer kühnen und ungeheuer selt¬ 
samen metaphysischen Verabsolutierung in ihren Bestimmungen und 
Begriffen als Norm, als unbedingtes theoretisches Richtmaß für 
alles Geschichtliche und Menschliche erklärt. Sie erhebt sich da¬ 
durch über die Relativität und Gebundenheit aller bloß geschicht¬ 
lichen Erscheinungen, daß sie diese Erscheinungen nicht nur zum 
Problem macht, sondern auch die „Idee“ der Erscheinungen zu 
erfassen und einen sinnhaften Zusammenhang dieser Erscheinungen 
aufzudecken unternimmt. Eine solche metaphysische Deutung der 
Welt der Erfahrung ist jedoch nur möglich, weil die Philosophie 
in diesem Deutungsakt aus der Erfahrungswelt hinaustritt, sich über 
sie erhebt, sich ihr gegenüber in mythischer Weise verabsolutiert 
und in dieser konstruktiven Tat einen in sich und in jener Tat ge¬ 
gründeten autonomen Zusammenhang von unbedingt gültigen Be¬ 
griffen und als unbedingt gültig angesehener Entscheidungen er¬ 
richtet. 
Im Gegensatz zu allem Empirismus und zu allen Versuchen einer 
historischen Einordnung oder soziologischen Ableitung der philo¬ 
sophischen Systeme ist deren metempirischer Charakter, deren Ent- 
hobenheit von den Schwankungen und Wandlungen der geschicht¬ 
lichen Entwicklung zu beachten, zu betonen und zu wahren. Ein 
Gedankensystem, das nichts anderes als der Ausdruck und Nieder¬ 
schlag, nichts anderes als sozusagen das theoretische Spiegelbild 
seiner Zeit ist, mag eine kulturgeschichtliche oder kulturpsycholo¬ 
gische Zusammenfassung und Vereinheitlichung der Grundzüge seiner 
Zeit sein — ein philosophisches System im Sinne einer Philosophie 
dieser Zeit ist es noch nicht. Dazu wird es erst dadurch, daß es seine 
Zeit in „Begriffe“ faßt. Tut es das aber, dann erhebt es sich schon 
begrifflich über seine Zeit; es verselbständigt und verabsolutiert sich 
ihr gegenüber, und zwar so sehr, daß es sogar seine Zeit über ihre 
Relativität und Unfertigkeit ideell und sinnhaft hinaushebt. Das 
Daseinsrecht und der Geltungswert aller philosophischen Arbeit 
hängen zu einem entscheidenden Teil geradezu von dieser entschie¬ 
denen Transzendenz über das Geschichtliche, von diesem außer¬ 
ordentlichen Durchbruch in das Reich des Metaphysischen ab. 
Hinter der äußeren, der empirischen Geschichte der Philosophie wird 
überall der Bau einer metaphysischen Geschichte der Philosophie
	        
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