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III. Der dialektische Idealismus
synthese des Systems fordert a priori das von der Synthese noch
nicht bezwungene Fremde, ihr Feindliche, verlangt a priori nach
dem — Chaos. Schon oben wurde darauf hingewiesen, daß die
Einheit der Erkenntnis die heterogene Vielheit erkenntnismäßig
nicht bewältigten sinnlichen Stoffes, daß das System der Sittlich¬
keit die Gewalt der Sünde, daß das System des Rechtes den Trotz
des Unrechtes, schließlich das Leben überhaupt die Brutalitäten
und Bedrohungen durch dunkle Mächte fordert.
Deshalb weist jedes Wirklichkeits- und Kultursystem nicht nur
formal und logisch auf einen Antipoden hin, der mit zu seinen Be¬
dingungen und Bürgen gehört, sondern es steht auch seinem Gehalt
nach immer in einem tiefen Kampf gegen irgendwen oder irgend
etwas. Es braucht diesen Gegensatz und Kampf, um Gesetz und
Sinn seiner Geltung zu erwirken und zu erfüllen. Das ist seine
Dialektik. Das ist die Dialektik des Seins überhaupt. Sie bedingt
es, daß alles Wirkliche in Theorie und Praxis mit der schöpferischen
und vorantreibenden Kraft des Risikos behaftet ist, daß es einen
erfreulichen Stachel in sich trägt, daß in ihm eine unaufhebbare
Unruhe arbeitet, daß in ihm der Heroismus der Angst lebt, daß
nicht die Vollendung im Sinne klassischer Harmonie, sondern die
Herbheit der Tragik seine Aufgabe und sein Ziel darstellt.
Vielleicht ist der Ausdruck: Lebensangst nicht glücklich, nicht
treffend. Weil er als zu negativ, als eine Bezeichnung für Feigheit,
Unmännlichkeit, Mangel an Impulsen aufgefaßt werden kann. Doch
ist das alles damit nicht gemeint. Es wäre nicht falsch, an Rudolf
Ottos „Numenose“, an das,,Tremendum“ zu denken und an die auf¬
peitschenden Gefahren, die allem Leben zum Glück drohen. Religion
und Wissenschaft haben im Verein uns die Gewißheit des Waltens
ewiger Ordnungen gebracht. Ist es aber die ganze Religion und
ist es die ganze Wissenschaft, die diese Lehre geschaffen und uns
geschenkt haben? Wir stellen das Recht dieser Lehre nicht in Ab¬
rede. Wir sehen, daß der Glaube an solche Ordnungen einem meta¬
physischen Bedürfnis entspricht. Wir gewahren und buchen mit
Stolz die ungeheueren Erfolge, die die Verwirklichung dieses
Glaubens im Denken und Handeln gezeitigt hat. Ohne diese Ver¬
wirklichung wäre das, was wir Kultur nennen, nicht möglich. Mir
scheint, daß eine stärkere Rechtfertigung dieses Glaubens nicht zu
erreichen ist.
Aber betonen wir das Walten jener ewigen, ehernen Ordnungen
nicht vielleicht gerade darum so geflissentlich, und sind wir auf