13. Die kritische Geisteshaltung
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Urphänomen der Angst? Ist das Hervorbrechen dieses Gefühls
das seelische Zeugnis einer Urschuld, eines metaphysischen Grund¬
vergehens, des Abfalls von Gott, wie der gewaltige Philosoph der
Angst Sören Kierkegaard jenes Grunderlebnis deutet? Indem die
„Lebensphilosophie“ der Gegenwart das „Leben“ zum Gegenstand
ihres Nachsinnens machte, mußte sie jenem Urphänomen be¬
gegnen. Denn beide sind tief miteinander versponnen. Der Fall
ist vergleichbar dem nicht minder bemerkenswerten Umstand, daß
eine wesentlich rationalistische Philosophie, wie diejenige des 17. und
18. Jahrhunderts, auf das Problem und auf den Begriff der Angst
nicht stieß. Sie philosophierte nicht bloß in der Form des strengen
und festen Begriffs und entwand damit allem Irrationalistischen nicht
bloß seinen Einfluß, sondern ihr galt auch der Verstand, die strenge
und feste Ratio, als die Grundlage der Wirklichkeit und als das
Ziel alles Strebens, als die Erfüllung der Idee der Vollkommenheit.
Diese Einstellung und die ihr gemäße Weltauffassung beruhten viel
zu sehr auf der, durch die mathematischen Naturwissenschaften
beglaubigten Überzeugung von der unbedingten Herrschaft des Ver¬
standes und auf der Gewißheit mathematischer Deduktion aller Er¬
scheinungen, als daß sie der Möglichkeit einer Erschütterung dieser
so festgefügten Lebensführung durch das Eindringen irrationaler
Momente überhaupt hätten nachgehen können oder nachzugehen
Veranlassung gehabt hätten.
Diese ganze rationalistische Weltanschauung wies nicht bloß
den Charakter eindrucksvoller Festigkeit in Hinsicht auf ihre Form
und auf die Form ihrer Erkenntnis auf, sie war sich auch durchaus
sicher, alles dieser Festigkeit Widerstrebende oder Gefährdende
überwinden und das Leben in allen seinen Ausstrahlungen, ob in
Kunst oder in Religion, ob in Staat oder Recht, bändigen und durch
diese Rationalisierung auch in seinem Gehalt gegen die Bedrohung
durch dunkle Mächte feien zu können. Damit leugnete oder nahm
sie dem Leben schließlich alle dämonischen und alle tragischen Züge.
Indem sie über dasselbe das beruhigende Licht des Rationalismus
verbreitete, verhalt sie dem Leben selber zur Beruhigung und be¬
scheinigte ihm durch ihre Deduktionen den spießbürgerlichen An¬
spruch auf Ruhe und das Recht auf das philiströse Verlangen nach
rational gegründeten und rational gestalteten Ordnungen. Das Zeit¬
alter der Entstehung und der Ausbildung des Rationalismus ist nicht
ohne Grund zugleich das Zeitalter der Entstehung und der Aus¬
bildung der „bürgerlichen“ Weltanschauung und der „bürgerlichen“
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