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III. Der dialektische Idealismus
Epen1). Ihnen gleichen die Bilder Van Goghs, in denen die Lebensangst
aus ihrer metaphysischen Umdüsterung hervorgetreten ist und zu
einem mitgestaltenden ästhetischen Prinzip wurde, ohne dabei ihre
Umdüsterung, ihre Unheimlichkeit zu verlieren. Diese Bilder sind nicht
bloß die Beichte einer schweren künstlerischen Seele, in der das
Grauen vor der Welt zur Übermacht emporstieg, sie sind zugleich das
Bekenntnis eines ganzen und wesentlichen Zuges des Lebens selber.
Und vielleicht liegt erst darin der Grund, weshalb diese Werke uns
so packen und so erschüttern. Es ist, als rissen sie die Schleier weg,
die ein konventioneller Harmonismus oder der uns allen eingeborene
Hang zur Spießbürgerlichkeit um die wahre Natur des Lebens hüllt.
Ganz das gleiche gilt in bezug auf die Werke Strindbergs. Auch
sie offenbaren die „Teufelei“ des Lebens; sie lassen uns in die Schluch¬
ten seiner Dämonie hineinsehen; sie bieten eine „Wahrheit“, vor
der wir uns aus dem Verlangen nach „Genuß“ verbergen oder die
wir ableugnen möchten, die aber trotzdem ihre „Wahrheit“ als
Niederschlag jener angsteinflößenden Lebensdämonie nicht einbüßt.
Ich denke auch an die mehr als zeitgeschichtlich bedeutungsvollen
Bilder des Norwegers Edvard Munch, z. B. an sein Gemälde, das er
„Nacht“ betitelt. Es stellt ein nacktes, im Dunklen erwachendes, auf
seinem Bett sich wie unter der Bedrohung durch ein unsichtbares und
doch so furchtbar deutliches Gespenst zusammenkrampfendes Mäd¬
chen dar2). Hier wird nicht bloß die Stimmung einer besonderen
empirischen Angst geschildert, die unter dem Eindruck besonderer
Umstände für bestimmte Menschen und auf bestimmt bemessene
Stunden hervorbricht; es ist vielmehr die Angst an sich, die Angst
als metaphysische Realität, es ist diejenige Angst, die unseres Lebens
Zubehör und Symbol ist, von der der Maler ein Bild entwirft, ein
Bild, das jedoch mehr als nur ein Bild ist.
Es wäre lehrreich, die Kunst und die Wissenschaft unserer Zeit
daraufhin ins Auge zu fassen, was sie von dieser Lebensangst und wie
sie diese Lebensangst zur Darstellung bringt. Aus welchen tieferen
Gründen gewahrt und versteht unsere „kritische“ Zeit dieses
*) Vgl. mein Buch „August Strindberg, seine Weltanschauung und seine
Kunst“, 3. Aufl. 1923, ferner Karl Jaspers „Strindberg und van Gogh.
Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung
von Swedenborg und Hölderlin“. 2. Aufl. 1926.
!) Vgl. das ausgezeichnete Buch von Kurt Glaser, Edvard Munch;
Berlin 1917, S. 18 u. 21, das für das Verständnis des großen norwegischen
Künstlers von bahnbrechender Bedeutung war.