Vorwort
XV
denen das Zeitalter des Klassizismus huldigte, keine unmittelbare
und ungebrochene Wirkungsmöglichkeit und Selbstverständlichkeit
zubilligen kann. Wir befinden uns heute in einer sehr ernsten und
tiefen Auseinandersetzung mit den Bildungsideen des Humanismus
und des harmonistischen Klassizismus, und diese Auseinander¬
setzung macht einen nicht geringen Teil der geistigen Krisis der
Gegenwart aus. Die Entscheidung wird uns um so schwerer ge¬
macht, als wir sie ohne Zugeständnisse nicht erkaufen können. Denn
wir kennen jetzt die Gewalt der dialektischen Spannungen des
inneren und des äußeren Daseins mit einer Deutlichkeit, die die
Aussicht auf eine harmonische Einigung des Lebens als einen
schönen Traum erscheinen läßt. Ist nun, nach einem bekannten
Worte Hegels, eine Philosophie die begriffliche Erfassung des
Wesens und des Gehaltes ihrer Zeit, dann muß, da auch unsere
Philosophie die Beziehungen zur Gegenwart nicht verleugnen kann
und nicht verleugnen will, auch in unserer Arbeit der dialektische
Charakter der gegenwärtigen Geisteslage anklingen.
So verbinden sich in der hier vorliegenden Philosophie über¬
zeitliche Gesichtspunkte mit zeitlich gegebenen Fragen und Ein¬
stellungen gemäß der fruchtbaren und niemals zu tilgenden Wechsel¬
seitigkeit von Unzeitlichem und Unzeitgemäßem mit Zeitlichem und
Zeitgemäßem. Sie verbinden sich zu einer Philosophie und Lebens¬
deutung, die den Charakter einer dialektischen Metaphysik und
einer metaphysischen Dialektik aufweist. Was dieser Begriff einer
dialektischen Metaphysik und einer metaphysischen Dialektik be¬
sagen will, von welchen Voraussetzungen aus eine solche Dialektik
sich erhebt, welches ihre gedankliche Reichweite und Wesensart ist,
das ist in unserer Arbeit über „Geist und Welt der Dialektik“ ein¬
gehend entwickelt. Von dieser Arbeit erscheint nunmehr der erste
Band, der die „Grundlegung“ der dialektischen Metaphysik und
der metaphysischen Dialektik enthält. Aber über die unmittelbare
Aufgabe einer Grundlegung hinaus gewährt er auch mehr oder
minder weit geführte Ausblicke in das Gebiet der Sittlichkeit, der
Kunst und der Religion. Diese Ausblicke sollen die Fruchtbarkeit
unseres dialektischen Prinzips, das von ihm beherrschte Strahlungs¬
feld, die Mannigfaltigkeit seiner konkreten Verzweigungen und die
Möglichkeit und Berechtigung seiner Anwendung auf den ver¬
schiedensten Gebieten und für die verschiedensten Gebiete des
objektiven Lebens verdeutlichen.
Berlin, den 10. November 1928.
Arthur Liebert.