Full text: Grundlegung der Dialektik

XIV 
Vorwort 
Da sich jedoch die philosophischen und geschichtlichen, ferner 
die seelischen und die moralischen Bedingungen, die jenen dialekti¬ 
schen Typus hervorriefen, gewaltig geändert haben, da wir mit der 
Gegenwart in eine neue, von höchsten Krisen und Antinomien 
getragene Geisteslage eingetreten sind, so mußte auch diejenige 
Dialektik, die wir vertreten, einen neuen Zug annehmen. Die alte 
und klassische Form stand im Dienst eines überstarken Harmonie¬ 
gedankens; sie war ein Werkzeug und eine Form für die Beilegung 
aller Zwiespältigkeiten und für die Gewinnung der erlösenden Ein¬ 
heit, deren sichere Erreichung auch nicht dem leisesten Zweifel aus¬ 
gesetzt war. Der abgewandelte Typus der Dialektik hingegen, d. h. 
jene Gestalt, die wir als das notwendige Ergebnis der neuen Ent¬ 
wicklungen auf philosophischem und geschichtlichem, auf seelischem 
und sittlichem Gebiete vorfinden und in unserer Arbeit vertreten, 
muß jener harmonistischen Züge und humanistisch-humanisierenden 
Tendenzen in gewissem Umfange entbehren. Er muß mit anderen 
Worten einen tragischen Charakter tragen; wir können demgemäß 
von einem tragischen Typus der Dialektik sprechen, dessen 
Wesen und Wert, dessen Entstehung und Recht unsere Darlegungen 
kennzeichnen werden. 
Erst die Vertretung eines derartigen „Tragismus“ scheint mir 
der prinzipiellen Eigenart und Bedeutung der Dialektik in ihrer 
vollen Strenge zu entsprechen und gerecht zu werden und zugleich 
der geistigen Verfassung gemäß zu sein, die sich in den letzten Jahr¬ 
zehnten unter dem unwiderstehlichen Drucke schwerster äußerer 
und innerer Erlebnisse gebildet hat. Wir verkennen keinen Augen¬ 
blick die einzigartige Größe und Schönheit der klassizistisch-huma¬ 
nistischen Gemütsverfassung und Lebensgesinnung und ihrer Aus¬ 
wirkung in der Kunst und in der Erziehung. Und uns dünkt die 
Sehnsucht nach einer Erneuerung jener Lebensstimmung und 
Lebensweise mehr als begreiflich. Dennoch dürfen wir den un¬ 
geheuren Einfluß gleichfalls nicht verkennen, den die geschichtliche 
Entwicklung in der Fülle ihrer neuen Probleme und Leistungen auf 
unser Seelenleben und auf unsere Weltauffassung, auf unseren 
Glauben und auf die Gestaltung der Wirklichkeitsdeutung unauf¬ 
haltsam ausgeübt hat. Das Zeitalter der Technik und der Wirt¬ 
schaft, der sozialen Kämpfe und der übergreifenden Organisationen 
des Handels und des Gewerbes hat eine Weltanschauung und eine 
Lebensvorstellung entstehen lassen, die uns von der klassizistischen 
Daseinsgesinnung doch weit entfernt hat, und die den Idealen,
	        
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