Full text: Grundlegung der Dialektik

4. Das ästhetische Motiv 
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barster Wechselverschlingungen eignet. Vielleicht wären auch die 
Herausstellung eines einzelnen Prinzips und die Zuerteilung des 
Primates an dasselbe ein Verstoß gegen den Sinn und gegen den 
Vollgehalt der Dialektik, deren vielbewegte Einheitlichkeit durch 
ein solches Verfahren eine Verletzung erfahren würde. Immer wieder 
ergibt sich die Einsicht, daß Platos Ideenlehre die höchste und um¬ 
fassendste Ausprägung und Anwendung der Idee der Dialektik dar¬ 
stellt, und daß alle folgenden Systeme der idealistischen Metaphysik 
nur Zweige an dem platonischen Grundstamme sind, Zweige, die 
die Weiterführung einzelner Richtungen der Ideenlehre in Einzel¬ 
entwicklungen verkörpern. 
Die deutschen Metaphysiker nehmen nun auch noch nach einer 
anderen Richtung als derjenigen, die wir weiter oben gekennzeichnet 
haben (vgl. S. 127), eine Vereinseitigung der Totalität der platoni¬ 
schen Dialektik vor. Wie sie einen spezifisch ethischen Idealismus 
entwickelt haben, so haben sie auch unter beschränkender Aus¬ 
nutzung der platonischen Idee der Schönheit einen spezifisch 
ästhetischen Idealismus ausgebildet. Das größte Beispiel ist hier die 
Metaphysik Friedrich Schillers, wie sie sowohl in seinen philo¬ 
sophischen Gedichten als auch in seinen philosophischen Abhand¬ 
lungen, vor allem in den Ästhetischen Briefen, in schlechthin klassi¬ 
scher Form niedergelegt ist. Da diese ästhetische Metaphysik und 
die Rolle, die sie der Kunst zuerkennt, allgemein bekannt sind, 
erübrigt es sich, hier über diese Dinge noch eingehend zu handeln. 
Aber ein Wort des Hinweises auf Schillers Platonismus ist nicht 
entbehrlich. Wie tief Schiller selber sich mit dem originalen Plato 
beschäftigt haben mag, steht nicht zur Erörterung. Aber der Geist 
des Platonismus, und zwar unter ganz besonderer Betonung des 
ästhetischen Momentes und der Wichtigkeit desselben in der Ideen¬ 
lehre und für dieselbe war ihm durch Shaftesbury und durch seinen 
Lehrer auf der Karlsschule und späteren Freund Abel, einen be¬ 
geisterten Anhänger des englischen Philosophen, zu dauerndem 
Besitztum zugeführt worden. Es ist ungemein lehrreich, zu ver¬ 
folgen, wie tief die ästhetisch-harmonistische Weltansicht Shaftes- 
burys in Schiller Wurzel gefaßt und welchen Einfluß sie auf seine 
Weiterbildung der kantischen Philosophie, d. h. auf seinen Versuch 
der Überwindung des angeblichen kantischen Dualismus von Sinn¬ 
lichkeit und Sittlichkeit, von Neigung und Pflicht ausgeübt hat. 
Wir berühren hier absichtlich nicht die Frage, ob Schiller als ein 
eigentlicher Kantianer anzusehen ist, in welchem Ausmaße er auf
	        
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