Full text: Grundlegung der Dialektik

3. Das moralische Motiv 
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lose Gerechtigkeit und die in ihr sich bekundende Ruhe und Frei¬ 
heit des Geistes sind erst der Gewinn einer hohen Stufe der Bildung 
und erst der Preis einer tiefen intellektuellen Zucht. 
Viel früher als alle Erkenntnis machen sich in jeder ursprüng¬ 
lichen Lebensverfassung die elementaren Affekte der Liebe und des 
Hasses geltend. Ihre ursprüngliche Bedeutung im Haushalt des 
Lebens und für diesen Haushalt haben schon Descartes und Spinoza 
betont. Und diesen Affekten wohnt eine ebenso ursprüngliche 
Tendenz zur Bewertung inne, die aus ihrer Affektwurzel heraus 
unkritisch, unreflektiert vorgeht und die Züge der Naivität trägt. 
Die genannte Tendenz findet ihren logischen Niederschlag in meta¬ 
physischen Urteilen, die jedoch stets Vorurteile und naive Be¬ 
wertungen darstellen. Den Inbegriff dieser Vorurteile bildet eine 
Weltbewertung als der Kern jener Sonderart der Metaphysik, die 
wir ethischen Idealismus genannt haben. 
Wie merkwürdig ist dieser Kern der Metaphysik, der zu der hoch¬ 
gespannten Abstraktheit und Überbegrifflichkeit ihrer Erkenntnisse 
in einem schneidenden Widerspruch steht. Sollte diese schwere 
Begriffsrüstung nur darum konstruiert sein, um die Naivität des 
Inhaltes der metaphysischen Systeme zu schützen oder zu verheim¬ 
lichen ? Wie dem auch immer sei: Noch aller Betätigung des intellek¬ 
tuellen Motives und seiner Auswirkung in bestimmten erkenntnis- 
mäßig sich ablagernden Urteilen vorauseilend, erwächst die Meta¬ 
physik aus dem unmittelbaren Erlebnis einer naiven Welt¬ 
bewertung, das seine Entscheidungen aus der Tiefe des moralischen 
Motivs und der Impulse, die in diesem Motive stecken, urwüchsig 
trifft. 
d. Die metaphysische Tendenz zur Freiheit. 
Die Dämonie der Freiheitsidee. 
Aber die Kraft dieses moralischen Motivs weist sich noch in einer 
anderen und vielleicht eingreifenderen Leistung aus, die in dieser 
Bewertungstendenz wirksam ist, und die sich auf das primäre Aus¬ 
teilen von Lob und Tadel nicht beschränkt. Ob wir die Welt opti¬ 
mistisch, ob wir sie pessimistisch deuten, sie verherrlichen oder ver¬ 
klagen — das moralische Motiv erzeugt nicht nur bestimmte 
Typen der Weltbewertung, sondern aus ihm geht auch 
die Befriedigung des elementaren Bedürfnisses nach — 
Freiheit hervor! Ein Punkt von der denkbar größten Bedeutung 
für die Erzeugung und Ausbreitung der Metaphysik, für ihre Ent- 
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