Full text: Grundlegung der Dialektik

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II. Von der Pflicht zur Metaphysik 
gar nicht in den Sinn kommen, Gott die Eigenschaften des Ge¬ 
heimnisvoll-Furchtbaren und des Mystisch-Drohenden, des Numi- 
nosen, um mit Rudolf Otto zu sprechen, beizulegen. So wenig wie 
die Kunst wird auch die Religion aus solchen dunklen Hintergründen 
und mitternächtigen Jenseitigkeiten erklärt. Für alle diese Züge, 
deren Bedeutung erst der Romantik aufging, mangelt der Aufklärung 
das Verständnis in einem kaum noch zu überbietenden Maße. Sie 
erfaßt Gott und Welt, Wissenschaft und Recht, Kunst und Religion 
unter dem ihr eigenen rational-moralischen Gesichtspunkt. Ihre 
rationale Theologie ist zugleich Moraltheologie, ihr metaphysischer 
Rationalismus ist zugleich metaphysischer Moralismus. Alles, was 
ihr Geist ergriff, wurde zu einer rationalen und moralischen Ver¬ 
anstaltung. Als solche ist die Welt aus der absoluten intellektuellen 
und moralischen Vollkommenheit Gottes hervorgegangen; die Ge¬ 
setze, auf denen ihre Wirklichkeit beruht, tragen den Charakter 
einwandfreier mathematischer Ordnung und sittlicher Fehlerlosig- 
keit. Kein Wunder, daß aus solcher Anschauungsweise eine opti¬ 
mistische Weltansicht mit Notwendigkeit hervorgehen mußte, die, 
nichts weniger als ein Erzeugnis und ein Zeugnis persönlicher und 
individueller Gemütsverfassung, in jener Aufklärungsmetaphysik 
ihren logischen und zureichenden Grund besitzt. 
Überhaupt haben wir in diesem Typus der Metaphysik ein lehr¬ 
reiches Beispiel für die in der Metaphysik im allgemeinen in allen 
möglichen Formen zur Geltung gelangende Verschlingung des 
intellektuellen Motivs mit dem moralischen, für die Verwebung 
der Welterkenntnis mit der Weltbewertung. Und vielleicht 
gehört diese Wendung zu den entscheidenden Ursprüngen und An¬ 
trieben, denen die Metaphysik ihre Entstehung verdankt. 
c. Der Primat der Weltbewertung. 
Wie wir schon weiter oben angaben, liegt die Tendenz zu einer 
Beurteilung der Wirklichkeit und zu ihrer Bewertung tief in der 
menschlichen Brust. Wir wollen nicht zunächst wissen, was eine 
Erscheinung ist, sondern was sie wert ist. Und nicht nach den Be¬ 
rechnungen der Erkenntnis und einer vorurteilslosen theoretischen 
Haltung, sondern nach den primären Entscheidungen des Wertens 
richten wir uns und richten wir unser Leben. Dabei macht es gar 
nichts aus, daß diese Bewertungen nicht in freier Vorurteilslosigkeit, 
in Gerechtigkeit und Besonnenheit getroffen werden. Vorurteils¬
	        
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