Full text: Grundlegung der Dialektik

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II. Von der Pflicht zur Metaphysik 
vielleicht weniger in theoretischer Form, weniger durch die Ent¬ 
wicklung einer besonderen Lehre, als vielmehr durch sein protrepti- 
sches Handeln1). Und sind diese Aporien überhaupt anders zu lösen? 
Prägt sich in ihnen nicht eine ganz ursprüngliche, eine, wie gesagt, 
aus der Dialektik des Lebens selber immer wieder hervortretende 
gedankliche Dialektik aus? 
Jedes der beiden Motive und Prinzipien ist autonom und wacht 
über seine Autonomie mit Eifersucht. Wie sehr sträubt sich be¬ 
sonders die Wissenschaft gegen jede Beeinflussung durch moralische 
Gesichtspunkte. Mag, so sagen ihre Vertreter, die Wissenschaft als 
Ganzes ein bestimmtes Ethos in sich tragen und in ihrer Stellung im 
Ganzen der Kultur ein Ethos verkörpern. Dennoch dürfte daraus 
niemals die Erlaubnis zur Benutzung moralischer Betrachtungs¬ 
und Wertungsweisen innerhalb des wissenschaftlichen Betriebes ab¬ 
geleitet werden. In diesem Sinne wird immer wieder und mit den 
verschiedensten Begründungen die bestimmte Forderung ausge¬ 
sprochen, die Wissenschaft moralinfrei zu halten. Ist diese Forderung 
restlos durchführbar? Ist sie methodisch berechtigt? Eine schwere 
und bedeutsame, weil über das bloße Wissenschaftsgebiet hinaus¬ 
greifende, die Wurzeln unserer geistigen Existenz unmittelbar an¬ 
gehende Frage. In aller Kürze seien hier die Erörterungen von 
Gustav Schmoller, Adolf Lasson, Max Weber, Max Scheler, Eduard 
Spranger u. a. genannt, die sich mit jener Frage beschäftigt haben2). 
Wie liegt tatsächlich das Verhältnis zwischen jenen beiden 
Motiven? Und wie stellt es sich, was uns hier besonders inter¬ 
essiert, innerhalb der Metaphysik dar? Unverkennbar greift jedes 
der beiden Motive in den Sinn und in den Geltungsbereich des 
x) Vgl. Heinrich Maier, Sokrates, sein Werk und seine geschichtliche 
Stellung (1913). In diesem Werke wird der Nachweis dafür erbracht, daß 
Sokrates überhaupt nicht in die Reihe der eigentlichen Begriffsphilosophen 
gehöre und noch weniger gar als Begründer der Begriffsphilosophie im fach¬ 
technischen Sinne dieser Bezeichnung anzusehen sei. Seine Bedeutung als 
ethischer Protreptäker charakterisiert Maier mit den Worten: „Die Philo¬ 
sophie', der Sokrates sein Leben geweiht hat, ist nicht Metaphysik, weder 
dogmatische noch skeptische, nicht Logik, nicht Ethik und nicht Rhetorik; 
sie ist überhaupt nicht Wissenschaft, am wenigsten ,populäre'. Sie ist ein 
Suchen nach persönlich sittlichem Leben“ (a. g. O. S. 294 f.). 
2) Vgl. Eduard Spranger, Der gegenwärtige Stand der Geisteswissen¬ 
schaften und die Schule (2. Aufl. 1925), wo zu der Frage über die Berechtigung 
und über die Stellung der Werturteile in der Geisteswissenschaft, besonders 
in der Nationalökonomie, auf den Seiten 73 ff. noch weitere Literatur an¬ 
gegeben ist.
	        
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