2. Das intellektuelle Motiv
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heißen wollte. Welch ein erschütterndes, aber zugleich erhebendes
Schauspiel ist es, zu gewahren, wie Kant hier, als er bereits weit
über die von der Bibel zugestandene Lebenszeit hinaus war, in einer
fast mystisch berührenden Erneuerung seiner unerschöpflichen
Genialität sich bemüht, aus der verborgenen Wurzel der Vernunft
das System der Kategorien abzuleiten und eine Brücke von den
einzelnen Verstandesprinzipien, wie solche in den konkreten Wissen¬
schaften als Bedingungen gelten, zur höchsten Vernunfteinheit zu
schlagen. Tantalische Qualen mag er bei der Arbeit an jenem Werke
erlitten haben, Qualen in doppelter Hinsicht: Einmal mußte er die
Besorgnis hegen, es vor dem von ihm selber aufgerichteten Richter¬
stuhl der Kritik, vor dem die Grenzen der menschlichen Erkenntnis
in aller Strenge festgelegt waren, nicht verantworten zu können,
wenn er dem Zwang zur metaphysischen Weiterbildung des Kriti¬
zismus auch nur im Plan und Entwurf eine leise Nachgiebigkeit ent¬
gegenbrachte, also im Begriff war, etwas zu tun, was er sich doch
selber verboten hatte. Ferner mußte es ihn bedrücken, daß seinem
Ringen um die Darstellung jener Ableitung kein reinliches Gelingen
beschieden sein wollte, so groß auch die Zahl und die Intensität der
Ansätze zur Bewältigung dieser Aufgabe waren. Das Opus postumum
umfaßt vierzehn Konvolute, von denen beinahe jedes die heroische
Anstrengung um die Bezwingung des Problems der Deduktion der
Kategorien zeigt, ohne daß die Hinfälligkeit des Philosophen ihm
den Erfolg der Bemühungen gegönnt hätte.
c. Die Dialektik des metaphysischen Rationalismus.
Der metaphysische Rationalismus oder, was gleichbedeutend ist,
die Metaphysik der Vernunftprinzipien stellt, alles in allem ge¬
nommen, die objektive logische Auswirkung des intellektuellen
Motivs innerhalb des vielverschlungenen Gewebes der Metaphysik
überhaupt dar. Wie er auf Erkenntnis der Welt hinzielt, so findet
er für die Befriedigung dieser Absicht seinen Stoff in und an der
positiven Wissenschaft. Wir definieren ihn als diejenige meta¬
physische Disziplin, die eine absolute Welterkenntnis anstrebt und
die Erreichung dieses Zieles als grundsätzlich möglich und gewiß
erachtet. Und zwar sucht der metaphysische Rationalismus seinen
Grundplan in einer Doppelform zu verwirklichen.
Erstens gilt ihm a priori die Welt selber, die Welt an sich, in ihrer
ganzen Breite und Tiefe als der Inbegriff und als die reale Einheit