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II. Von der Pflicht zur Metaphysik
wenn sie nicht in die Fundgrube der positiven Wissenschaft hinein¬
stiege und von hier aus das Fächerwerk ihrer Begriffskonstruktionen
ausfüllte?
Man muß diese Beziehung zwischen der Metaphysik und der
positiven Forschung bereitwillig und unverhohlen zugeben und in
der dauernden und uneingeschränkten Aufrechterhaltung dieses Ver¬
hältnisses einen nicht hoch genug zu schätzenden Gewinn für beide
Teile erblicken. Trotzdem scheint mir die Beziehung zwischen dem
metaphysischen Rationalismus und Idealismus auf der einen Seite
und der konkreten Wissenschaft auf der anderen durch die Berück¬
sichtigung desjenigen Verhältnisses zwischen ihnen, von dem in dem
unmittelbar vorangehenden Absatz die Rede war, noch nicht hin¬
länglich erschöpft. Der metaphysische Rationalismus steht in einer
viel engeren Verknüpfung mit der positiven Forschung, als daß er
diese erst um die Lieferung von Baumaterial für die reale Durch¬
führung seiner Synthesen, sozusagen um Fleisch für seine Begriffe,
bitten müßte. Beschränkte sich sein Verhältnis zu ihnen auf diese
Form, dann wäre er in der Tat nur ein Nachzügler auf ihrer Fahrt,
und niemals wäre mit seinem pünktlichen Eintreffen sicher zu rech¬
nen. Ja, wann wäre ihm sein Eintreffen überhaupt zu genehmigen,
und wann wäre es statthaft? Immer könnte von der positiven
Forschung mit dem Hinweis darauf, daß sie gerade in einer besonders
reichen Entwicklung begriffen sei, eine Hinausschiebung seiner An¬
kunft verlangt werden, wenn der immer naheliegende Mißerfolg
einer vorschnellen Verallgemeinerung vermieden werden soll. Und
wie ist angesichts der doch wahrhaft ungeheueren Ausbildung unserer
Wissenschaften eine enzyklopädische Synthese durchführbar, der
nicht als Schreckgespenst der Vorwurf oder der Verdacht im Rücken
schwebt, daß sie wesentliche Züge der Einzelforschung unberück¬
sichtigt gelassen habe? Abgesehen von der enzyklopädischen
Genialität des Aristoteles, so konnte auch noch Leibniz angesichts
des Bestandes des konkreten Wissens seiner Zeit das Wagnis einer
solchen enzyklopädischen Zusammenfassung unternehmen. Ihr
Erfolg war nicht nur von ihrer Begabung, so hoch dieselbe auch
immer gewertet werden mag, sondern nicht minder von dem im
Verhältnis zu unserer Zeit nicht übermäßigen Reichtum der Wissen¬
schaft ihrer Tage abhängig. Ich erinnere aber an einen Denker wie
Wilhelm Wundt, dem fraglos gleichfalls eine außerordentliche
enzyklopädische Fähigkeit eigen war, und der diese Fähigkeit in
den Dienst seines „Systems der Philosophie“ gestellt hat. Sie