Full text: Grundlegung der Dialektik

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II. Von der Pflicht zur Metaphysik 
Klassiker der Philosophie beinahe durchgängig für eine auf Erleb¬ 
nissen und Gefühlen aufgebaute Philosophie keine Zustimmung 
übrig hatten, in vielen Fällen sogar ihre erklärten Feinde waren und 
ihrer Gegnerschaft mit kurz abweisender oder beißender Ironie Aus¬ 
druck verliehen? Denn zu einer ausführlichen Widerlegung war 
ihnen die „Gefühlsphilosophie“ nicht wichtig genug. Sie waren fast 
alle mehr oder minder strenge und unter Umständen eifervolle 
Rationalisten und dadurch sowohl Dolmetscher als auch Anwälte 
und Förderer der großen europäischen Entwicklungslinie des Ratio¬ 
nalismus und der unwiderstehlichen Rationalisierung unseres äußeren 
und inneren Daseins. 
Auf diese Verhältnisse hinzuweisen, ist angesichts des gegen¬ 
wärtigen Auftretens romantisierender Neigungen, die auf die Philo¬ 
sophie Einfluß zu gewinnen suchen oder in ihr sich bereits breit¬ 
machen, nicht unberechtigt. Aus welchen Gründen auch immer in 
unserer Zeit ein Überdruß an der rein rationalistischen Geisteshaltung 
entstanden sein mag, so muß doch mit allem Ernst auf die drohen¬ 
den Schädigungen hingewiesen werden, die aus jenem Einflüsse nicht 
allein für die äußere und technische Gestaltung unseres Daseins, 
sondern nicht weniger für die Gesittung bis hinein zu ihren intimsten 
und zartesten Gebilden in Kunst und Religion entstehen müssen. 
Selbst den begeistertsten Verherrlichern des Expressionismus, also 
des Niederschlages rein gefühlsmäßig gerichteter Geisteshaltung, 
werden die schweren Gefahren zum Bewußtsein gekommen sein, die 
durch den Versuch heraufbeschworen werden, das Irrationale zur 
Grundlage des Lebens machen zu wollen. So wenig wie das Irratio¬ 
nale für sich allein der Quell- und Ausgangspunkt der geschichtlichen 
Kultur ist, so wenig vermag es für sich allein den Gang der Kultur 
zu gestalten und zu sichern.1) 
*) Eine ausgebreitete und umsichtige Auseinandersetzung mit dem Expres¬ 
sionismus bietet das gehaltreiche Buch von Emil Utitz „Die Überwindung des 
Expressionismus“ (1927). Utitz würdigt den Expressionismus sowohl als Kunst¬ 
stil als auch in seiner Eigenschaft als allgemeine Geisteshaltung und Gesinnungs¬ 
weise; er verfolgt seine Auswirkungen nach allen Seiten, zeigt seine relative 
Berechtigung, die besonders auf seinen Bemühungen um die Beseitigung des 
Naturalismus beruhte. Zugleich aber deckt Utitz in energischen Begründungen 
auch die überaus großen Gefahren auf, in die der Expressionismus, restlos 
durchgeführt, unsere Kultur und Bildung zweifellos stürzen würde bzw. da, 
wo er zur Anwendung gelangte, bereits gestürzt hat. Und er faßt seine, in 
vielen Punkten überzeugende Kritik in die Worte zusammen: „So heilsam 
Expressionismus in manchem Betracht sein mag und auch wirklich ist, er
	        
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