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IV. Kapitel
STUDIUM DER ANTIKEN BAUTEN UND DES
VITRUV
§ 24
Allgemeiner Charakter der Neuerung
In Italien geht die Kultur der bildenden Kunst zeitlich voran. Letztere
besinnt und rüstet sich lange, ehe sie dasjenige zum Ausdruck bringt, was
Bildung und Poesie schon vorher auf ihre Weise ans Licht getragen. So
war auch das Altertum längst ein Ideal alles Daseins, bevor man es in der
Baukunst ernstlich und durchgreifend ergründete und reproduzierte.
Vgl. Bd. »Kultur der Renaissance« dieser Ausg., S. 120 ff. Vor einer
bloßen Bewunderung der antiken Bauten (woran es nie gefehlt hatte),
vor einer bloß ästhetischen Opposition wäre überdies der gotische Stil
nicht gewichen; es bedurfte dazu einer außerordentlichen Stadt und
eines gewaltigen Menschen, welche das Neue tatsächlich einführten.
Zu Florenz, in einer Zeit hohen Gedeihens, wird zuerst das Gefühl
lebendig, daß die große Kunst des 13. und 14. Jahrhunderts ihre Lebens¬
kräfte aufgebraucht habe und daß etwas Neues kommen mußte.
Florenz am Anfang des 15. Jahrhunderts, Macchiavelli, storiefiorent.,
Eingang des IV. Buches; - Poggius, Hist.ßor.populi, L. V, ada. 1422.
Jenes Gefühl sehr deutlich 1435 ausgesprochen bei Leon Battista Al-
berti (geb. 1404) in der Schrift della pittura, opere volgari, ed. Bonucci,
vol. IV.; es sei ihm früher vorgekommen, »als ob die Natur alt und
müde geworden wäre und keine großen Geister wie keine Riesen mehr
hervorbringen möchte«; jetzt aus langer Verbannung nach Florenz zu¬
rückgekehrt, ist er froh erstaunt, in Brunellesco, dem er diese Schrift
widmet, in Donatello, Ghiberti, Luca della Robbia, Masaccio eine neue
Kraft zu finden, die den erlauchtesten alten Meistern nichts nachgebe. -
(Um 1460, als der Stil der Renaissance das Gotische bereits aus seinen
letzten Zufluchtsorten vertrieb, durfte Filarete sagen: wenn unser Stil
nicht schöner und zweckmäßiger wäre, so würde man ihn in Florenz
nicht brauchen, a Firenze non s’usaria.)
Die neue Kunst tritt gleich auf mit dem Bewußtsein, daß sie mit der
Tradition breche und daß außer der Freiheit die höchste Anspannung
aller Kräfte, aber auch der höchste Ruhm ihre Bestimmung sei.
Alberti fährt an obiger Stelle fort: »Ich sehe nun auch, daß alles
Große nicht bloß Gabe der Natur und der Zeiten ist, sondern von
unserm Streben, unserer Unermüdlichkeit abhängt. Die Alten hatten
es leichter, groß zu werden, da eine Schultradition sie erzog zu jenen