§ 57
Die Verhältnisse
Mit Anwendung der bisher betrachteten Formen samt den eigentlichen
Zierformen komponiert die Renaissance ihre Bauten nach einem gehei¬
men Gesetz, dem der Verhältnisse (§ 30, 33, 38). Dieselben sind von allen,
auch den römischen Vorbildern unabhängig und ein wesentlicher Besitz
des modernen Weltalters, welches nie mehr ungestraft sich denselben ent¬
ziehen wird.
Auf rein mathematischem Wege kann man nie zu durchgreifenden
Regeln gelangen, weil außer den Proportionen auch die stärkere oder
schwächere Plastik der Formen die Wirkung entscheiden hilft, so daß
bei denselben Verhältnissen ein Bau schlanker oder schwerer erschei¬
nen kann. Es wäre zu wünschen, daß ein Wort existierte, welches aus¬
drücklich die Verhältnisse (worunter man gewöhnlich bloß Höhe,
Breite und Tiefe versteht) und die Plastik zugleich umfaßte.
L. B. Alberti braucht bei Anlaß seiner Fassade an S. Francesco zu
Rimini für die geheimnisvolle Harmonie der Teile zum Ganzen be¬
reits das Wort »tutta quella musica«. {Lettern sulla cupola etc., opere vol-
gari, Tom. IV.) Die »musikalischen Proportionen« (§ 26) auch bei dem
Biographen Brunellescos.
Verhältnisangaben für bestimmte einzelne Fälle teilt z. B. Serlio
häufig mit, läßt sich aber auf keine prinzipiellen Erörterungen ein.
Schon damals fehlte es nicht an Leuten, welche der Sache auf spe¬
kulativem Wege beizukommen suchten. Dem Jac. Sansovino korri¬
gierte 1534 ein Mönch Francesco Giorgio die Proportionen seiner Kir¬
che S. Francesco della Vigna zu Venedig nach einer platonischen Zah¬
lentheorie, wovon ein kleines Muster Vasari XIII, p. 85, Nota, v. di
Jac. Sansovino.
Die Anwendung der antiken Ordnungen hat vielleicht an keinem
einzigen Renaissancebau über die Verhältnisse entschieden. Der Bogen¬
bau war von vornherein an nichts gebunden und die Wandpilasterord¬
nung hatte schon bei den Römern völlige Freiheit der Intervalle. Da¬
zu die Sockel und Attiken nach Gutbefinden.
Die Verhältnisse in ihrer Beziehung zu den Formen und diese zu
jenen bleiben daher Sache des höchsten und feinsten künstlerischen Ver¬
mögens. Es handelt sich um einen Stil, bei welchem das wirkliche Le¬
ben nicht in der (wenn auch an sich sehr schönen) Einzelbildung der
Formen, sondern in ihrer Proportionalität zum Ganzen liegt. Wer die¬
ses Gesetz nicht wenigstens nachempfinden kann, der wende sich vom
Stil der Renaissance ab und suche sein Ergötzen anderswo.