Full text: Der Mensch und die Welt

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Der Beginn der Kritik und ihr Weg 
und Unbelebtes unterscheidet man scharf. Man kennt 
auch alles Mögliche an Naturgesetzen. Das sittliche Be¬ 
wußtsein ist rein zum Ausdruck gekommen, der Gottes¬ 
begriff ist geläutert. Viele Fragen freilich sind Fragen ge¬ 
blieben, unter ihnen als Wichtigstes die Frage nach dem 
Tod; und geblieben ist auch der Gedanke einer „jenseiti¬ 
gen“, nicht unmittelbar erfahrbaren Welt. Alles aber geht 
noch aus von der naiven Überzeugung, daß man „diese“ 
Welt so erfasse, wie sie ist. 
1. Der Irrtum als Vater des Zweifels 
Nun aber kommt die erste ganz große Wendung in der 
Erfassung der Welt: eben jene Überzeugung, daß 
man die Welt erfasse, wie sie „an sich“ ist, wird 
erschüttert, und das geschieht durch das klare Bewußt¬ 
sein um die Tatsache des Irrtums. 
Geirrt hat selbstverständlich auch schon der „natür¬ 
liche“ Mensch, und er hat es auch gewußt; aber er hat 
dieses sein Wissen um seinen Irrtum nicht besonders be¬ 
achtet, er hat kein „Problem“, keine „Frage“ aus ihm 
gemacht; es war ihm „selbstverständlich“. 
Ein Jäger ging gegen Abend in einen Wald; einen Mann 
sah er in der Feme sitzen und verdoppelte seine spähende 
Aufmerksamkeit; konnte es doch ein Feind sein, und viel¬ 
leicht waren noch mehr Feinde im Verborgenen. Vor¬ 
sichtig ging er weiter und sah nach einigen Minuten, daß 
der Mann — ein seltsam geformter Baumstamm war. „Ach 
so“, denkt er und geht ruhig weiter. 
Aber der, welcher zuerst nicht nur „Ach so“ denkt und 
ruhig weitergeht, sondern sich sagt: „Wie seltsam, daß 
man sich täuschen kann“ — der legt den ersten Grundstein 
zu dem, was später Erkenntnistheorie genannt wer¬ 
den wird. Denn alle Erkenntnistheorie oder Erkenntnis¬ 
kritik“ ist aus dem Irrtum erwachsen. 
Hier habe ich mich geirrt, so heißt es nun, hier ist mir 
eine Täuschung der Sinne untergelaufen; die Wirklich¬ 
keit war anders, als ich glaubte. Sollte ich mich noch in
	        
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