leben, das ist gewiß. Ich liebe das Leben, ich will die lebendige
Seele. Wie sollte ich sonst leben? Will nicht alles Leben mehr
Leben und fürchtet nichts so sehr, wie nicht mehr zu sein? Deshalb
sagt die denkende Seele zu sich selbst: ich liebe dich, o meine Seele.
Ich lebe, ich liebe, ich will leben. Was wäre gewisser?
— Was willst du nun also, du, der du leben willst? Wirst du
nicht antworten: ich will glücklich sein? »Hs gibt niemanden, der
nicht sein möchte, wie es auch niemanden gibt, der nicht glücklich
sein möchte.« (De Civitate Dei, Liber XI, Caput XXVI)
— Du weißt also, daß du lebst, o meine Seele, und du willst
glücklich sein? Und doch: kennst du dich selbst? Weißt du denn,
was du bist? Kannst du von dir selbst sagen: ich bin, was ist und
sich begreift? Kannst du sagen: ich gehöre mir und bin mit mir
vereint, daß ich immer bei mir bin, ohne daß mich je etwas von
mir selbst trennen könnte? Kannst du zu dir selber von dir sagen:
ich kenne mich und verstehe mich? Du siehst, was in dir vorgeht
und du kannst dich dessen nicht bemächtigen; es ist in dir und
doch besitzt du es nicht. — Wer sieht denn nicht sein eigenes Denken?
Und wer sieht sein eigenes Denken nicht mit den Augen des
Fleisches, sondern mit der inneren Schau? Wer sieht es nicht und
wer sieht es?« (De Trinitate, Liber XV, Caput IX, 16) Und bist du,
die du dich siehst, nicht dennoch die, die du siehst? Bist du nicht die
von dir selbst Gesehene? Wie kannst du dich also sehen und zugleich
nicht sehen? Und wie kannst du dich zugleich kennen und nicht
kennen? — Und doch geht es hier nicht um die höchsten Sphären
des Himmels, noch um die Sternenräume, noch um die Weite des
Meeres und der Kontinente, noch um die Tiefen der Hölle; uns
selbst können wir nicht begreifen; zu groß, zu mächtig für uns
selbst, gehen wir über die engen Grenzen unserer Wissenschaft
hinaus, wir vermögen nicht, uns unserer selbst zu bemächtigen,
und doch sind wir nicht außer uns.« (De Anima et ejus Origine,
Liber IV, Caput VI, 8) Denn was ist dir näher als du selbst, was
kann dir mehr gehören als du? Wie kann es sein, daß du dich selbst
20